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Bundesverfassungsgericht, Kammerbeschluß vom 24. September 2021 - 1 BvQ 103/21 - FD-Platzhalter-rund

Bundesverfassungsgericht, Kammerbeschluß
vom 24. September 2021 - 1 BvQ 103/21


Betreuungsrecht; erfolgloser Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung im Betreuungsverfahren; voraussichtlich begründete Rüge einer Gehörsverletzung (Art. 103 Abs. 1 GG); fehlende Darlegung der Eilbedürftigkeit.
BGB §§ 1896 ff; FamFG §§ 279, 280; GG Art. 103; BVerfGG § 32

1. Zu den Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 BVerfGG für den Erlaß einer einstweiligen Anordnung.
2. Wird der Antragsteller von der Einleitung eines Betreuungsverfahrens und der beabsichtigten Untersuchung erst mit Schreiben von dem Tage, an dem das Gericht die Untersuchung durch den Sachverständigen bereits angeordnet hat, informiert, und wird ihm damit die Möglichkeit, auf diese Entscheidung des Gerichts vorab effektiv Einfluß zu nehmen, verwehrt, dann kann eine noch zu erhebende Verfassungsbeschwerde hinsichtlich der Rüge einer Verletzung des Rechts auf rechtliches Gehör begründet sein.
3. Der Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung ist mangels Darlegung einer Eilbedürftigkeit im Sinne des § 32 Abs. 1 BVerfGG abzulehnen, wenn der Rechtsbehelf des Antragstellers noch nicht verbeschieden, und Verschiebung des anberaumten Untersuchungstermins möglich ist.

BVerfG, Kammerbeschluß vom 24. September 2021 - 1 BvQ 103/21 - AmtsG Osnabrück [80 XVII 116/21]
Rpfleger 2022, 19 = BtPrax 2022, 26

Tenor
Der Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.

Gründe
1
I. Der Antragsteller wendet sich mit einem isolierten Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung gegen einen Beschluß des Amtsgerichts - Betreuungsgericht - Osnabrück, mit dem ein Sachverständiger mit der Erstellung eines Gutachtens im Rahmen eines den Antragsteller betreffenden Betreuungsverfahrens beauftragt wurde.
2
1. Wie sich aus einem Schreiben des Amtsgerichts an den Antragsteller ergibt, hat ein Dritter bei dem Amtsgericht die Bestellung eines Betreuers für den Antragsteller mit dem Aufgabenkreis der Vermögenssorge angeregt. Das Betreuungsgericht leitete daraufhin ein Betreuungsverfahren ein.
3
2. Mit dem angegriffenen Beschluß vom 10. September 2021 beauftragte das Amtsgericht einen Sachverständigen mit der Erstellung eines Gutachtens zu den medizinischen Voraussetzungen einer Betreuung. Mit Schreiben von demselben Tage informierte das Amtsgericht den Antragsteller erstmals über die Einleitung des Betreuungsverfahrens und die Beauftragung des Sachverständigen; darüber hinaus wies das Gericht darauf hin, daß es den Antragsteller vor der Entscheidung über die Bestellung eines Betreuers persönlich anhören werde. Eine Aufforderung zur Stellungnahme zu der Einleitung des Betreuungsverfahrens und Bestellung eines Sachverständigengutachtens enthält das Schreiben nicht.
4
3. Mit Schreiben vom 15. September 2021 informierte der gerichtlich bestellte Sachverständige den Antragsteller darüber, daß er den Antragsteller am 7. Oktober 2021 zum Zwecke der Begutachtung aufsuchen und untersuchen werde.
5
4. Der Antragsteller legte gegen den Beschluß des Amtsgerichts Beschwerde ein. Er sehe es als »eine Unverschämtheit sondergleichen« an, daß gegen seinen Willen und auf Anregung Dritter ärztliche Untersuchungen angeordnet werden, ohne ihm die Möglichkeit einer Stellungnahme einzuräumen. Er werde keine Untersuchungen an sich vornehmen lassen und erwarte die »Einlassungen (des Gerichts) bis zum 01.10.2021, 12.00 Uhr«.
6
5. Mit seinem am 22. September 2021 eingegangenen isolierten Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung rügt der Antragsteller eine Verletzung in seinen Grundrechten aus Art. 1, Art. 2 Abs. 1 und 2, Art. 3 Abs. 3, Art. 13 Abs. 1, Art. 103 Abs. 1 GG. Der Beschluß des Amtsgerichts sei ergangen, ohne ihm zuvor rechtliches Gehör einzuräumen. Er sei in vollem Besitz seiner geistigen Kräfte, und gehe einer geregelten Arbeit als Buchhalter nach.
7
II. Der Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung hat keinen Erfolg.
8
1. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall - auch schon vor Anhängigkeit eines Verfahrens zur Hauptsache (vgl. BVerfGE 134, 135 <137> mwN, ständige Rechtsprechung) - einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zu der Abwehr schwerer Nachteile, zu der Verhinderung drohender Gewalt, oder aus einem anderen wichtigen Grunde zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsaktes vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde erwiese sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet (vgl. BVerfGE 88, 185 <186>; 103, 41 <42>, ständige Rechtsprechung). Bei offenem Ausgang der Verfassungsbeschwerde sind die Folgen, die eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber später Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abzuwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde jedoch der Erfolg versagt bliebe (vgl. BVerfGE 88, 185 <186>, ständige Rechtsprechung). Wegen der meist weittragenden Folgen, die eine einstweilige Anordnung in einem verfassungsgerichtlichen Verfahren auslöst, ist bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 BVerfGG ein strenger Maßstab anzulegen (vgl. BVerfGE 87, 107 <111>, ständige Rechtsprechung).
9
2. Ausgehend davon ist der Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung abzulehnen.
10
a) Zwar wäre eine noch zu erhebende Verfassungsbeschwerde auf der Grundlage des bisherigen Vortrags des Antragstellers hinsichtlich der Rüge einer Verletzung des Rechts auf rechtliches Gehör voraussichtlich begründet.
11
aa) Für das Gericht erwächst aus Art. 103 Abs. 1 GG die Pflicht, vor dem Erlaß einer Entscheidung zu prüfen, ob den Verfahrensbeteiligten rechtliches Gehör gewährt wurde (vgl. BVerfGE 36, 85 <88>). Maßgebend für diese Pflicht des Gerichts ist der Gedanke, daß die Verfahrensbeteiligten Gelegenheit haben müssen, die Willensbildung des Gerichts zu beeinflussen. Der Anspruch auf rechtliches Gehör fordert, daß das erkennende Gericht die Ausführungen der Verfahrensbeteiligten zur Kenntnis nimmt und in Erwägung zieht (vgl. BVerfGE 83, 24 <35>; 96, 205 <216>; BVerfG, Beschluß der 2. Kammer des Ersten Senats vom 17. September 2010 - 1 BvR 2157/10 - FamRZ 2010, 1970 Tz. 28, ständige Rechtsprechung).
12
bb) Der angegriffene Beschluß genügt diesen Voraussetzungen nicht. Der Antragsteller wurde zwar schriftlich von der Einleitung eines Betreuungsverfahrens und der beabsichtigten Untersuchung informiert, dies jedoch mit Schreiben von dem Tag, an dem das Gericht die Untersuchung durch den Sachverständigen bereits anordnete. Eine Möglichkeit, auf diese Entscheidung des Gerichts vorab effektiv Einfluß zu nehmen, wurde dem Antragsteller damit verwehrt. Die nachträgliche Information über den Erlaß des angegriffenen Beschlusses ist nicht geeignet, den Gehörsverstoß zu heilen, denn jedenfalls für den juristischen Laien geht aus dem Schreiben des Gerichts nicht hervor, daß eine Möglichkeit zur Stellungnahme noch vor der Untersuchung durch den Sachverständigen besteht; vielmehr verweist das Gericht den Antragsteller ausdrücklich auf die noch zu erfolgende persönliche Anhörung, wobei aus der Formulierung und dem Zusammenhang mit dem vorangegangenen Absatz des Schreibens der Schluß gezogen werden kann, daß die Anhörung erst nach der Erstattung des Gutachtens erfolgen soll. Zudem ist es dem Antragsteller allein auf der Grundlage des Schreibens des Gerichts nicht möglich, zu der Anregung einer Betreuerbestellung substantiiert Stellung zu nehmen, da er die Gründe, die dem Gericht für die Anregung einer Betreuung genannt wurden, nicht kennt.
13
cc) Eine vorherige Anhörung ist hier auch nicht deshalb entbehrlich, weil in dem Beschluß noch keine zwangsweise Untersuchung und Vorführung des Antragstellers angeordnet wurde, denn aus dem Beschluß des Amtsgerichts ergibt sich nicht, daß die Mitwirkung an der Erstellung des Gutachtens für den Antragsteller freiwillig ist. Ein rechtsunkundiger Bürger wird, wenn eine solche Beauftragung im Wege des Beschlusses erfolgt, davon ausgehen, daß er zu der Mitwirkung bei der Untersuchung verpflichtet ist (vgl. BVerfG, Beschluß der 2. Kammer des Ersten Senats vom 17. September 2010 - 1 BvR 2157/10 - FamRZ 2010, 1970 Tz. 31). Bei einer Verweigerung der freiwilligen Untersuchung muß der Betroffene auch damit rechnen, aufgrund eines erneuten Beschlusses zwangsweise vorgeführt und untersucht zu werden (§ 283 Abs. 1 FamFG). Im Übrigen hat bereits die Beauftragung eines Gutachters zu der Prüfung einer möglichen Betreuungsbedürftigkeit eine stigmatisierende Wirkung, wenn Dritte von ihr Kenntnis erlangen. Ein Rechtsmittel gegen die Beauftragung des Gutachters ist gemäß § 58 Abs. 1 FamFG jedenfalls nicht ausdrücklich vorgesehen; insofern erhält die vor der Beauftragung zu erfolgende Anhörung des Betroffenen zum Schutz seiner Rechte besondere Bedeutung (vgl. BVerfG, Beschluß der 2. Kammer des Ersten Senats vom 7. Dezember 2010 - 1 BvR 2157/10 - FamRZ 2010, 1970 Tz. 31).
14
b) Aus der Begründung des isolierten Antrages auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung geht jedoch keine Eilbedürftigkeit iSd § 32 Abs. 1 BVerfGG hervor. Der Antragsteller hat mit Schreiben vom 16. September 2021 einen Rechtsbehelf gegen den Beschluß des Amtsgerichts eingelegt, über den jedenfalls nach derzeitigem Kenntnisstand noch nicht entschieden wurde. Der Antragsteller selbst wollte bis Anfang Oktober abwarten. Aus dem Schreiben des psychiatrischen Sachverständigen an den Antragsteller geht zudem hervor, daß eine Verlegung des Untersuchungstermins möglich ist. Es ist unter diesen Umständen auch dem anwaltlich nicht vertretenen Antragsteller zumutbar, den Sachverständigen im Hinblick auf die noch ausstehende Reaktion des Gerichts um eine Verlegung des Untersuchungstermins zu ersuchen.
15
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

BVerfG, Kammerbeschluß vom 24.09.2021 - 1 BvQ 103/21
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