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Bundesverfassungsgericht, Kammerbeschluß vom 31. Mai 2021 - 1 BvR 1211/21 - FD-Platzhalter-rund

Bundesverfassungsgericht, Kammerbeschluß
vom 31. Mai 2021 - 1 BvR 1211/21


Betreuungsrecht; Entlassung eines Berufsbetreuers wegen mangelnder Eignung (hier: Verhinderung einer medizinisch gebotenen Corona-Schutzimpfung für 93-Jährige).
BGB §§ 1896, 1901 ff, 1904, 1908b; GG Art. 2, Art. 103; BVerfGG § 90

1. Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG verpflichtet den Gesetzgeber, ein System der Hilfe und des Schutzes für betreute Menschen vorzusehen, welche die Erforderlichkeit einer medizinischen Behandlung zur Abwehr erheblicher Erkrankungen nicht erkennen, oder die nicht danach handeln können. Handlungsleitend ist insofern der Wille der betreuten Person.
2. Die Verweigerung einer medizinisch angezeigten ärztlichen Maßnahme, deren Unterlassung zu einer begründete Gefahr für Leben oder Gesundheit des Betreuten führt, bedarf der Genehmigung durch das Betreuungsgericht (§ 1904 Abs. 2 BGB). Fehlt diese, so ist der Betreuer in Erfüllung seiner besonderen Verantwortung für die betreute Person zu der Einwilligung in die Maßnahme verpflichtet. Die dauerhafte Nichterfüllung dieser Verpflichtung kann die Entlassung eines Betreuers gemäß § 1908b Abs. 1 S. 1 BGB rechtfertigen (hier: erfolglose Verfassungsbeschwerde eines Berufsbetreuers gegen seine Entlassung mangels Eignung aufgrund Verhinderung einer medizinisch gebotenen Corona-Schutzimpfung für mehrere hochbetagte, von ihm betreute Personen).

BVerfG, Kammerbeschluß vom 31. Mai 2021 - 1 BvR 1211/21 - LG Frankfurt/M. [2-29 T 51/21]
FamRZ 2021, 1146 = NZFam 2021, 656 = BtPrax 2021, 146 = Rpfleger 2021, 637 = RuP 2021, 171 = RDG 2021, 212 = HSP Spezial Nr. 1.1 = HSP Spezial Nr. 1.1 [Ls]

Tenor
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Gründe
1
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Entlassung eines Berufsbetreuers im Zusammenhang mit einer Corona-Schutzimpfung (Impfung).
2
I. Der Beschwerdeführer ist Rechtsanwalt und vormaliger Berufsbetreuer einer 93-Jährigen (im folgenden: Betroffene), die an Demenz leidet, und durch Dritte im Rahmen von Tagespflege zu Hause gepflegt wird. Daneben war der Beschwerdeführer für mindestens zwei weitere Personen als Betreuer mit dem Aufgabenkreis der Gesundheitsfürsorge bestellt. In allen drei Verfahren wirkte der Beschwerdeführer einer Impfung der betreuten Personen entgegen, weil er nach eigener Einschätzung das damit verbundene Risiko im Verhältnis zu ihrem Nutzen für das Leben und die körperliche Unversehrtheit der betreuten Personen als schwerwiegender erachtete.
3
Nachdem das Betreuungsgericht den Beschwerdeführer zur Stellungnahme aufgefordert hatte, entließ es ihn schließlich als Betreuer der Betroffenen wegen mangelnder Eignung, ihre Angelegenheiten zu besorgen. Das Beschwerdegericht bestätigte die Entscheidung. Dagegen wendet sich der Beschwerdeführer mit seiner Verfassungsbeschwerde. Er rügt eine Verletzung seines rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG, weil die Gerichte seine Risiko-Nutzen-Abwägung einer Impfung für die Betroffene, die wegen der noch nicht zu überblickenden Nebenwirkungen mit »Russisch Roulette« gleichzusetzen sei, nicht angehört hätten.
4
II. Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen, weil keine Annahmegründe nach § 93a Abs. 2 BVerfGG vorliegen, und auch sonst kein Grund für ihre Annahme ersichtlich ist. Die Verfassungsbeschwerde ist mangels einer §§ 92, 23 Abs. 1 S. 2 Hs. 1 BVerfGG entsprechenden Begründung bereits unzulässig; sie hat damit keine Aussicht auf Erfolg (vgl. BVerfGE 90, 22 <25 f>).
5
Der Beschwerdeführer rügt einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG; er ist vor seiner Entlassung als Betreuer jedoch durchaus gehört worden.
6
Auch im Übrigen ist gegen die angegriffenen Gerichtsentscheidungen verfassungsrechtlich nichts zu erinnern. Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG verpflichtet den Gesetzgeber, ein System der Hilfe und des Schutzes für betreute Menschen vorzusehen, welche die Erforderlichkeit einer medizinischen Behandlung zu der Abwehr erheblicher Erkrankungen nicht erkennen, oder die nicht danach handeln können (vgl. BVerfGE 142, 313 <338> Tz. 71). Nach der gesetzgeberischen Ausgestaltung (vgl. §§ 1901 ff BGB) ist der Wille einer betreuten Person wegen ihres grundrechtlich geschützten Selbstbestimmungsrechts für den Betreuer und die staatlichen Organe handlungsleitend (vgl. BVerfGE 142, 313 <339 f> Tz. 74; Beschluß der 2. Kammer des Ersten Senats vom 31. März 2021 - 1 BvR 413/20 - FamRZ 2021, 1055 Tz. 30 f).
7
Die Ersetzung des Willens der Betreuten durch den Betreuer und das Betreuungsgericht kommt unter den Voraussetzungen des § 1904 BGB überhaupt nur subsidiär in Betracht, wenn ihr tatsächlicher oder mutmaßlicher Wille nicht festzustellen ist. Wenn die ärztliche Maßnahme (wie hier möglicherweise die Impfung) medizinisch angezeigt ist, und bei ihrer Unterlassung eine begründete Gefahr für Leben oder Gesundheit des Betreuten besteht, muß das Betreuungsgericht gemäß § 1904 Abs. 2 BGB die Nichteinwilligung des Betreuers in den Eingriff genehmigen; ansonsten ist der Betreuer in Erfüllung seiner besonderen Verantwortung für die betreute Person zu der Einwilligung in die Maßnahme verpflichtet. Die dauerhafte Nichterfüllung dieser Verpflichtung kann die Entlassung eines Betreuers gemäß § 1908b Abs. 1 S. 1 BGB rechtfertigen.
8
Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 S. 3 BVerfGG abgesehen.
9
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

BVerfG, Kammerbeschluß vom 31.05.2021 - 1 BvR 1211/21
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