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OLG Brandenburg, Beschluß vom 6. Oktober 2021 - 10 UF 75/21 - FD-Logo-500

OLG Brandenburg
Beschluß vom 06.10.2021 - 10 UF 75/21



Kindesentführung; Ausschluß der Rückführung eines Kindes nach Art. 13 HKÜ; Ermessensentscheidung; eigenständige Willensbildung des Kindes; Gesichtspunkt der Geschwisterbindung und Begriff der »unzumutbaren Lage«.

HKÜ Art. 13

1. Bei der Anwendung des Art. 13 Abs. 2 HKÜ gibt es keine starre Altersgrenze, ebenso keine formale absolute Untergrenze; vielmehr hängt die Berücksichtigungsfähigkeit des Kindeswillens von den Umständen des Einzelfalles ab, insbesondere auch von dem individuellen Entwicklungsstand. Je mehr sich das Alter des Kindes der Grenze von 16 Jahren und damit der fehlenden Anwendbarkeit des Haager Übereinkommens vom 25. Oktober 1980 über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung nähert, ist sein Widerstand zu berücksichtigen, was etwa ab 13 Jahren, spätestens ab 14 Jahren der Fall ist.
2. Im Allgemeinen korrespondiert das Alter eines gesunden, normal entwickelten Kindes mit seiner geistigen Reife. Etwas anderes kann für spätentwickelte oder behinderte Kinder gelten; insoweit ist dann - losgelöst von dem biologischen Alter - der Reifegrad des Kindes unter dem Aspekt zu prüfen, in welchem Umfang dieser ihm eine eigenständige Willensbildung erlaubt. Entscheidend ist insoweit, ob das Kind fähig ist, seine Lage zu verstehen, und trotz möglicher Einflußnahme, insbesondere seitens des Entführers, einen eigenen Willen bilden kann, der sich insbesondere auch darauf beziehen muß, daß zum einen die Rückführung gegebenenfalls nur vorläufig ist, nämlich bis zu dem Erlaß einer Sorgerechtsentscheidung im Herkunftsstaat, und zum anderen keine Entscheidung darüber darstellt, bei welchem Elternteil das Kind in Zukunft lebt.
3. Aus der Formulierung »kann es ferner ablehnen« in Art. 13 Abs. 2 HKÜ ist zu folgern, daß das Gericht eine Ermessensentscheidung zu treffen hat. Art. 13 Abs. 2 HKÜ verlangt demnach nicht, daß ein Richter automatisch dem erklärten Wunsch eines Kindes folgt, selbst dann nicht, wenn er meint, das Kind sei ausreichend reif. Die europäische Menschenrechtskonvention gibt zwar dem widersprechenden Kind das Recht auf Gehör, das aber nicht zu einem Veto in dem Verfahren bei der Entscheidung werden kann, ob es zurückgeführt wird oder nicht; insoweit können die Gerichte auch veranlaßt sein, andere Umstände aus dem Umfeld des Kindes zu prüfen, bevor sie nach Ermessen entscheiden, die Rückgabe abzulehnen oder anzuordnen.
4. Der Gesichtspunkt der Geschwisterbindung kann auch unter den Begriff der »unzumutbaren Lage« subsumiert werden. Da die Geschwisterbindung in der Regel in hohem Maße für das Wohl und die soziale Entwicklung eines Kindes wichtig ist, sind Geschwistertrennungen - jedenfalls bei Sorgerechtsentscheidungen - grundsätzlich zu vermeiden. Würde allerdings die Rückführung eines Kindes zu einer manifestierten dauerhaften Trennung zu seinen Geschwistern führen, weil diese im Zufluchtsstaat zurückbleiben müßten, könnte dies eine für das Kind unzumutbare Lage bedeuten. Ein Gesichtspunkt kann dabei auch sein, daß Kinder gerade in dem Hin und Her zwischen den Eltern aufeinander angewiesen sein können.

OLG Brandenburg, Beschluß vom 6. Oktober 2021 - 10 UF 75/21

Tenor
1. Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluß des Amtsgerichts - Familiengericht - Brandenburg an der Havel vom 17.08.2021 (47a F 8/21) wird zurückgewiesen.
2. Das Beschwerdeverfahren ist gerichtskostenfrei. Außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.
3. Der Beschwerdewert wird auf 4.000 € festgesetzt. Der Wert für das erstinstanzliche Verfahren wird in Abänderung der Wertfestsetzung in dem angefochtenen Beschluß ebenfalls auf 4.000 € festgesetzt.

Gründe
A. Der Antragsteller begehrt als Vater die Rückführung seiner beiden Kinder W. (geboren im Jahre 2006) und A. (geboren im Jahre 2013) nach Polen. Durch Beschluß vom 17. August 2021 hat das Amtsgericht - Familiengericht - Brandenburg an der Havel den Antrag des Vaters zurückgewiesen; wegen der tatsächlichen Feststellungen und der Begründung wird auf jenen Beschluß Bezug genommen.

Gegen diese Entscheidung wendet sich der Vater - vertreten durch das Bundesamt für Justiz - mit der Beschwerde. Er trägt vor, das Amtsgericht sei zu Unrecht davon ausgegangen, daß ein Fall für eine Ablehnung der Rückgabe nach Art. 13 HKÜ vorliege; dabei sei zu beachten, daß diese Vorschriften als Ausnahmevorschriften eng auszulegen seien. Er, der Vater, habe dem Umzug der Kinder nach Deutschland nicht zugestimmt. Die von der Mutter vorgelegte schriftliche Zustimmungserklärung stamme nicht von ihm. Im Übrigen sei die Mutter nach ihren eigenen Angaben in der mündlichen Verhandlung vor dem Amtsgericht bei dem Wegzug nach Deutschland selbst nicht von einem Einverständnis des Vaters ausgegangen.

Die Verweigerung der Rückführung des Kindes W. könne nicht auf Art. 13 Abs. 2 HKÜ gestützt werden: Zum einen erscheine zweifelhaft, ob das Mädchen den Willen, nicht nach Polen zum Vater zurückkehren zu wollen, tatsächlich autonom gebildet habe; aus seinen Aussagen sei zu erkennen, daß es im Grunde die Aussagen der Mutter wiederhole. Zu ihren jetzigen Lebensumständen habe sie nach dem Vermerk »einsilbig« reagiert, und erst bei der Befragung zum Verfahrensgegenstand ausführliche Antworten gegeben. Insbesondere die erwähnten Streitigkeiten zwischen den Eltern entsprächen nicht den Tatsachen. Es sei ungewöhnlich, daß beide Kinder Angaben zu der Anzahl der von dem Vater angeblich getrunkenen Bierflaschen hätten machen können. Die behaupteten Angaben zum Alkoholkonsum seien auch unrichtig. Er, der Vater, müsse sich als Mitarbeiter und Fahrer der Firma F. regelmäßig Gesundheitsprüfungen, unter anderem auf Alkoholkonsum, unterziehen. Er gehe daher davon aus, daß W. von der Mutter instrumentalisiert worden sei.

Es gebe auch eine enge Bindung zwischen ihm und seinen Kindern. Unstreitig habe die Mutter phasenweise für längere Zeit im Ausland gearbeitet; in dieser Zeit habe er sich um die Kinder gekümmert und die Erziehung übernommen. Wenn in Bezug auf W. der Ausnahmetatbestand des Art. 13 Abs. 2 HKÜ nicht zur Anwendung gelange, liege auch kein Fall einer möglichen Geschwistertrennung vor. Doch selbst wenn man mit dem Amtsgericht davon ausgehe, daß hinsichtlich W.'s der Ausnahmetatbestand des Art. 13 Abs. 2 HKÜ greife, lägen jedenfalls in Bezug auf A. die Voraussetzungen des Art. 13 Abs. 1 lit. b HKÜ nicht vor. Für ihn drohe mit der Rückführung keine schwerwiegende Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens. Nicht bei jeder Geschwistertrennung sei dieser Ausnahmetatbestand erfüllt; vielmehr sei Voraussetzung, daß diese für das betroffene Kind nicht verkraftbar sei, und andernfalls die Gefahr einer schweren psychischen Belastung wegen der besonders engen Beziehung zu dem anderen Geschwisterkind besteht. Keines der Kinder habe sich während der Anhörung dazu positioniert, ob die Trennung von dem jeweils anderen Geschwisterkind als besonders schlimm empfunden werde.

Auch die Beziehungen der Kinder untereinander seien nicht thematisiert worden; im Gegenteil sei zu bedenken, daß zwischen den Kindern ein erheblicher Altersunterschied von mehr als siebeneinhalb Jahren bestehe. Die Interessen seien unterschiedlich. Da er, der Vater, sich während der Abwesenheit der Mutter unstreitig um die Kinder gekümmert habe, sei es auch nicht etwa so gewesen, daß W. eine Art Mutterrolle für ihren Bruder ausgeübt habe, die eine besondere Beziehung der Geschwister hätte begründen können. Auch sei zu beachten, daß die Trennung von einem deutlich älteren Geschwisterkind für eine gewisse Zeit - etwa durch einen Auslandsaufenthalt als Gastschüler - nicht ungewöhnlich und demnach nicht per se besorgniserregend sei.

Ferner sei durch eine positive Rückführungsentscheidung keine finale Entscheidung über die endgültige Geschwistertrennung getroffen; diese Entscheidung bleibe vielmehr den für das Sorgerecht zuständigen Gerichten überlassen. Auch werde hierdurch der Kontakt zwischen den Kindern nicht gehindert. Die Möglichkeit gegenseitiger Besuche bestehe nach wie vor, ebenso wie die Möglichkeit von Videotelefonie oder Chats. Eine besonders intensive Bindung der Geschwister, die selbst bei einer vorübergehenden Trennung bis zu einer endgültigen Sorgerechtsentscheidung den Ausnahmetatbestand des Art. 13 Abs. 1 lit. b HKÜ rechtfertigen könne, sei nicht festzustellen.

Die Mutter verteidigt die angefochtene Entscheidung. Sie trägt vor, der Vater habe seine Zustimmung zur ihrer Ausreise mit den Kindern nach Deutschland erteilt. Die Entwicklungschancen der Kinder in Deutschland seien erheblich besser als in Polen; dafür sprächen auch die beengten Wohnverhältnisse in der 2-Zimmer-Wohnung in Polen. Der Vater habe - auch in ihrer Abwesenheit - die Kinder häufiger alleine gelassen, und erhebliche Mengen an Alkohol zu sich genommen. Mit den Kindern habe er sich praktisch nur in einem aggressiven Schreiton unterhalten. Nachbarn hätten bereits die Polizei geholt. Die Beziehung der Eltern sei krisenhaft gewesen. Die Kinder hätten auf ihrer, der Mutter, Seite gestanden und ihre Absicht unterstützt, nach Deutschland umzuziehen. Unter diesen Umständen habe der Vater nachgegeben. Beide Kinder verbänden mit ihrer Ankunft und Integration in Deutschland erhebliche soziale und emotionale Erfolgserlebnisse; dies würde bei einer Rückkehr nach Polen zerstört.

Die Verfahrensbeiständin hat in ihrer Stellungnahme vom 27. September 2021 ausgeführt, die Entscheidung der Kinder für einen Verbleib in Deutschland beruhe auf einer autonomen Willensbildung. Die Angaben der Kinder über den Alkoholkonsum des Vaters seien ernst zu nehmen. Eine drohende Geschwistertrennung habe gravierende Folgen.

Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der wechselseitigen Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen. Der Senat hat die Beteiligten angehört; insoweit wird auf den Anhörungsvermerk zu dem Senatstermin vom 28. September 2021 verwiesen.

B. Die zulässige Beschwerde ist unbegründet.

I. Die Beschwerde ist zulässig.

1. Die Beschwerde ist statthaft und im Hinblick auf § 40 Abs. 2 S. 2 und Abs. 2 S. 1 IntFamRVG iVm § 64 Abs. 1 S. 1 FamFG auch fristgerecht eingelegt und begründet worden, denn der Beschluß des Amtsgerichts vom 17. August 2021 ist dem Verfahrensbevollmächtigten des Vaters ausweislich seines Empfangsbekenntnisses am 23. August 2021 zugestellt worden, und die Beschwerde ist nebst Begründung am 3. September 2021 und damit innerhalb der Zwei-Wochenfrist bei dem Amtsgericht eingegangen.

2. Das Bundesamt für Justiz war bei Einlegung der Beschwerde vertretungsberechtigt. Die von dem Verfahrensbevollmächtigten der Mutter mit Schriftsatz vom 27. September 2021 geäußerten Zweifel greifen nicht durch, denn das Bundesamt gilt als Zentrale Behörde gemäß § 3 Abs. 1 IntFamRVG bei der Ausführung des Haager Kindesentführungsübereinkommens zu dem Zwecke der Rückgabe des Kindes als bevollmächtigt, im Namen der antragstellenden Person selbst oder im Weg der Untervollmacht durch Vertreter gerichtlich oder außergerichtlich tätig zu werden (§ 6 Abs. 2 S. 2 IntFamRVG; vgl. auch Wagner, IntFamRVG [2012] § 6 Rdn. 3 f).

II. Die Beschwerde des Antragstellers bleibt in der Sache ohne Erfolg. Zu Recht hat das Amtsgericht seinen Antrag auf Rückführung der beiden Kinder nach Polen zurückgewiesen.

1. Die Kinder unterfallen dem personellen Anwendungsbereich des Haager Übereinkommens vom 25. Oktober 1980 über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung. Gemäß Art. 4 Abs. 1 HKÜ wird das Übereinkommen auf jedes Kind angewendet, das unmittelbar vor einer Verletzung des Sorgerechts oder des Rechts zum persönlichen Umgang seinen gewöhnlichen Aufenthalt in einem Vertragsstaat hatte. Diese Voraussetzungen sind im Hinblick auf das Verbringen der Kinder aus Polen nach Deutschland erfüllt. Das Übereinkommen wird allerdings nicht mehr angewendet, sobald das Kind das 16. Lebensjahr vollendet hat (Art. 4 Abs. 2 HKÜ). Dieser Zeitpunkt ist bei W. erst am 13. Januar 2022 erreicht; doch auch insoweit ist eine sofortige Entscheidung geboten. Nach § 38 IntFamRVG gilt ein besonderes Beschleunigungsgebot. So hat das Gericht alle erforderlichen Maßnahmen zur Beschleunigung des Verfahrens zu treffen, insbesondere auch, damit die Entscheidung in der Hauptsache binnen der in Art. 11 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 - [Brüssel IIa-VO] - genannten Frist ergehen kann (§ 38 Abs. 1 S. 3 IntFamRVG). Danach erläßt das Gericht seine Anordnung spätestens sechs Wochen nach seiner Befassung mit dem Antrag, es sei denn, daß dies aufgrund außergewöhnlicher Umstände nicht möglich ist (Art. 11 Abs. 3 Unterabs. 2 Brüssel IIa-VO). Die Frist gilt nicht nur für das Amtsgericht, sondern für alle Rechtszüge (vgl. Gottwald in MünchKomm, FamFG 3. Aufl. Brüssel IIa-VO Art. 11 Rdn. 8).

2. Der Vater ist antragsberechtigt. Macht eine Person, Behörde oder sonstige Stelle geltend, ein Kind sei unter Verletzung des Sorgerechts verbracht oder zurückgehalten worden, so kann sie sich entweder an die für den gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes zuständige zentrale Behörde oder an die zentrale Behörde eines anderen Vertragsstaates wenden, um mit deren Unterstützung die Rückgabe des Kindes sicherzustellen (Art. 8 Abs. 1 HKÜ). Danach ist der Vater als Mitinhaber der elterlichen Sorge antragsberechtigt.

3. Die Mutter hat die Kinder widerrechtlich nach Deutschland verbracht. Ist ein Kind iSd Art. 3 HKÜ widerrechtlich verbracht oder zurückgehalten worden, und ist bei Eingang des Antrages bei dem Gericht oder der Verwaltungsbehörde des Vertragsstaates, in dem sich das Kind befindet, eine Frist von weniger als einem Jahr seit dem Verbringen oder Zurückhalten verstrichen, so ordnet das zuständige Gericht oder die zuständige Verwaltungsbehörde die sofortige Rückgabe des Kindes an (Art. 12 HKÜ). So liegt es hier, denn die Antragsgegnerin hat die Kinder widerrechtlich nach Deutschland verbracht. Das Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes gilt gemäß Art. 3 S. 1 HKÜ als widerrechtlich, wenn

a) dadurch das Sorgerecht verletzt wird, das einer Person, Behörde oder sonstigen Stelle allein oder gemeinsam nach dem Recht des Staates zusteht, in dem das Kind unmittelbar vor dem Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, und

b) dieses Recht in dem Zeitpunkt des Verbringens oder Zurückhaltens allein oder gemeinsam tatsächlich ausgeübt wurde oder ausgeübt worden wäre, falls das Verbringen oder Zurückhalten nicht stattgefunden hätte.

Diese Voraussetzungen sind hier offensichtlich gegeben. Danach hat der Vater grundsätzlich einen Anspruch auf Rückführung der Kinder nach Polen.

4. Das Amtsgericht hat aber zu Recht die Rückgabe der Kinder unter Anwendung der Ausnahmetatbestände des Art. 13 HKÜ abgelehnt. Ungeachtet des Art. 12 HKÜ ist das Gericht nicht verpflichtet, die Rückgabe des Kindes anzuordnen, wenn die Person, die sich der Rückgabe des Kindes widersetzt, nachweist,

a) daß die Person, Behörde oder sonstige Stelle, der die Sorge für die Person des Kindes zustand, das Sorgerecht zur Zeit des Verbringens oder Zurückhaltens tatsächlich nicht ausgeübt, dem Verbringen oder Zurückhalten zugestimmt, oder dieses nachträglich genehmigt hat, oder

b) das die Rückgabe mit der schwerwiegenden Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für das Kind verbunden ist oder das Kind auf andere Weise in eine unzumutbare Lage bringt (Art. 13 Abs. 1 HKÜ).

Das Gericht oder die Verwaltungsbehörde kann es ferner ablehnen, die Rückgabe des Kindes anzuordnen, wenn festgestellt wird, daß sich das Kind der Rückgabe widersetzt, und daß es ein Alter und eine Reife erreicht hat, angesichts deren es angebracht erscheint, seine Meinung zu berücksichtigen (Art. 13 Abs. 2 HKÜ).

a) Die Mutter kann sich bezüglich der Weigerung, die Kinder zum Vater zurückzugeben, nicht mit Erfolg auf eine Zustimmung des Vaters zu dem Verbringen der Kinder nach Deutschland stützen (Art. 13 Abs. 1 lit. a HKÜ); insoweit wird auf die überzeugenden Ausführungen des Amtsgerichts in dem angefochtenen Beschluß Bezug genommen.

b) Eine Rückgabe W.'s hat das Amtsgericht aber zutreffend unter Berufung auf Art. 13 Abs. 2 HKÜ abgelehnt. Die Feststellung des Amtsgerichts, daß sich das Kind der Rückgabe widersetzt, und daß es ein Alter und eine Reife erreicht hat, angesichts deren es angebracht erscheint, seine Meinung zu berücksichtigen, hat sich in der erneuten Anhörung des Kindes durch den Senat bestätigt.

aa) Bei Anwendung des Art. 13 Abs. 2 HKÜ gibt es keine starre Altersgrenze, ebenso keine formale absolute Untergrenze; vielmehr hängt die Berücksichtigungsfähigkeit des Kindeswillens von den Umständen des Einzelfalles ab, insbesondere auch von dem individuellen Entwicklungsstand. Je mehr sich das Alter des Kindes der Grenze von 16 Jahren und damit der fehlenden Anwendbarkeit des Haager Übereinkommens vom 25. Oktober 1980 über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung nähert (Art. 4 S. 2 HKÜ), ist sein Widerstand zu berücksichtigen, was etwa ab 13 Jahren, spätestens ab 14 Jahren der Fall ist (vgl. BeckOGK/Markwardt, [Stand: 01.09.2021] HKÜ Art. 13 Rdn. 51). Diese Altersgrenze hat W. unzweifelhaft überschritten.

bb) Gerade auch im Hinblick auf die geistige Reife ist die Meinung W.'s zu berücksichtigen. Im Allgemeinen korrespondiert das Alter eines gesunden, normal entwickelten Kindes mit seiner geistigen Reife. Etwas anderes kann für spätentwickelte oder behinderte Kinder gelten; hier ist dann - losgelöst von dem biologischen Alter - der Reifegrad des Kindes unter dem Aspekt zu prüfen, in welchem Umfang dieser ihm eine eigenständige Willensbildung erlaubt (BeckOGK/Markwardt, aaO HKÜ Art. 13 Rdn. 52). Entscheidend ist insoweit, ob das Kind fähig ist, seine Lage zu verstehen, und trotz möglicher Einflußnahme, insbesondere seitens des Entführers, einen eigenen Willen bilden kann, der sich insbesondere auch darauf beziehen muß, daß zum einen die Rückführung gegebenenfalls nur vorläufig ist, nämlich bis zu dem Erlaß einer Sorgerechtsentscheidung im Herkunftsstaat, und zum anderen keine Entscheidung darüber darstellt, bei welchem Elternteil das Kind in Zukunft lebt (BeckOGK/Markwardt, aaO HKÜ Art. 13 Rdn. 53).

Mit der Beschwerde hat der Vater die autonome Willensbildung W.'s in Zweifel gezogen. Damit kann er aber nicht durchdringen. W. hat bei ihrer Anhörung vor dem Senat den Eindruck vermittelt, altersgerecht entwickelt zu sein. Sie war sogleich darüber orientiert, worum es in dem Anhörungstermin geht. Sie hat ausdrücklich bekundet, mit ihrer Mutter und ihrem Bruder in Deutschland bleiben zu wollen. Anhaltspunkte dafür, daß diese Äußerung nur aufgrund einer etwaigen Beeinflussung durch die Mutter erfolgt ist, bestehen nicht; vielmehr hat W. im Einzelnen geschildert, daß ihre Bindung an den Vater nicht so stark ist wie an die Mutter. Nachvollziehbar hat sie berichtet, sich vom Vater nicht hinreichend angenommen zu fühlen; dies hat sie sowohl mit ihren Empfindungen während der letzten Begegnung mit dem Vater anläßlich der Beerdigung der Großmutter, als auch mit dem Umstand, daß der Vater sie nie angerufen habe, erklärt. Allein die Tatsache, daß W. bei ihrer Anhörung auch erklärt hat, sie wünsche sich, »zu Hause« beim Vater übernachten zu dürfen, spricht nicht dafür, daß die Jugendliche entgegen ihren verbalen Bekundungen doch den Wunsch hat, zu ihrem Vater nach Polen zurückzukehren, denn es ist deutlich geworden, daß es dem Mädchen nicht um einen dauerhaften Aufenthalt beim Vater ging, sondern um gelegentliche Besuche, die sie insbesondere auch dazu nutzen möchte, Freunde an ihrem alten Wohnort wiederzusehen.

cc) Mit Rücksicht auf die von dem Mädchen geäußerte Meinung ist die Rückgabe an den Vater abzulehnen. Aus der Formulierung »kann es ferner ablehnen« in Art. 13 Abs. 2 HKÜ ist allerdings zu folgern, daß das Gericht eine Ermessensentscheidung zu treffen hat (BeckOGK/Markwardt, aaO HKÜ Art. 13 Rdn. 55.1). Art. 13 Abs. 2 HKÜ verlangt demnach nicht, daß ein Richter automatisch dem erklärten Wunsch eines Kindes folgt, selbst dann nicht, wenn er meint, das Kind sei ausreichend reif. Die europäische Menschenrechtskonvention gibt zwar dem widersprechenden Kind das Recht auf Gehör, das aber nicht zu einem Veto in dem Verfahren bei der Entscheidung werden kann, ob es zurückgeführt wird oder nicht. Insoweit können die Gerichte auch veranlaßt sein, andere Umstände aus dem Umfeld des Kindes zu prüfen, bevor sie nach Ermessen entscheiden, die Rückgabe abzulehnen oder anzuordnen (EGMR (III. Sektion), Urteil vom 1. Juli 2014 - 54443/10 - NJOZ 2015, 1148 Tz. 80).

In dem vorliegenden Fall sind aber andere Umstände, die stärker wiegen könnten als der unzweifelhaft und wiederholt geäußerte Wille des fast 16 Jahre alten Mädchens, nicht ersichtlich. Die zunächst gegenüber der Verfahrensbeiständin im Vertrauen getätigte, dann aber auch dem Senat gegenüber bekräftigte Äußerung W., sie würde sich zugunsten des deutlich jüngeren Bruders opfern, zum Vater nach Polen zurückzukehren, hat verdeutlicht, daß es für das Mädchen, sollte sie wieder in dem Haushalt des Vaters leben müssen, allein darum ginge, die Zeit bis zu dem Erreichen der Volljährigkeit »abzusitzen«. Anhaltspunkte dafür, daß es zwischen Vater und Tochter noch zu einem gedeihlichen Familienleben käme, bestehen angesichts dessen nicht. Es steht zu erwarten, daß letztlich beide unter einer solchen zwangsweise herbeigeführten Familiensituation leiden würden.

c) Auch einer Rückgabe A.'s steht die Ausnahmevorschrift des Art. 13 HKÜ entgegen. Im Ergebnis zutreffend hat das Amtsgericht in diesem Zusammenhang auf die Geschwisterbindung hingewiesen. Mit der Beschwerde hat der Vater allerdings zu Recht gerügt, daß sich insbesondere aus dem Anhörungsvermerk vom 2. August 2021 keine hinreichenden Angaben ersehen lassen, welche die von dem Amtsgericht getroffenen Feststellungen stützen, weil die Geschwisterbindung offensichtlich nicht Gegenstand der Anhörung der Kinder gewesen ist. Der Senat hat aber durch erneute Anhörung der Kinder eine ausreichende Grundlage für Feststellungen auch insoweit geschaffen.

aa) Auf Art. 13 Abs. 2 HKÜ hat das Amtsgericht seine Entscheidung in Bezug auf A. nicht gestützt; das ist angesichts des Alters des Jungen gut nachvollziehbar. Zwar hat auch A. nicht nur in dem erstinstanzlichen Verfahren und gegenüber der Verfahrensbeiständin, sondern auch bei der erneuten Anhörung durch den Senat erklärt, er wolle nicht zum Vater nach Polen zurückkehren. Daß der gerade erst acht Jahre alt gewordene Junge aber schon eine hinreichende geistige Reife entwickelt hat, insoweit autonom zu entscheiden, kann nicht angenommen werden. Hiervon ist auch das Amtsgericht im Hinblick auf das Verhalten des Jungen gegenüber seinem Vater ausgegangen. Die abschließende Äußerung des Kindes vor dem Senat, als er von sich aus davon gesprochen hat, der Vater habe ihn früher, als er abends zum Bier holen gegangen sei, öfter alleine gelassen, deutet eher darauf hin, daß eine Beeinflussung durch die Mutter vorliegt. Der Feststellung der Verfahrensbeiständin in dem Senatstermin, A.'s Willensäußerung sei nicht durch Manipulation herbeigeführt worden, kann daher ohne weitere Ermittlungen nicht uneingeschränkt beigetreten werden. Dies kann aber auf sich beruhen, da - wie noch näher auszuführen ist - in Bezug auf A. der Ausnahmetatbestand des Art. 13 Abs. 1 lit. b HKÜ gegeben ist mit der Folge, daß auch die Rückgabe des Jungen an den Vater abzulehnen ist.

Da bei Geschwistern der auf eine Weigerung ausgerichtete Wille jedes einzelnen Kindes zu prüfen ist, kann es im Einzelfall allerdings dazu kommen, daß ein jüngeres Geschwisterkind weder das erforderliche Alter, noch die Reife für eine zu berücksichtigende Weigerung hat, aber klar und nachdrücklich einer Trennung von seinen Geschwistern widerspricht. In diesem Fall wäre ein Widerstand gleichwohl als beachtlich anzusehen, da allein der Geschwisterbindung eine erhebliche Bedeutung zukommt (BeckOGK/Markwardt, aaO HKÜ Art. 13 Rdn. 54). Von einem solchen Widerstand A.'s gerade in Bezug auf die Bindung an seine ältere Schwester W. kann nach der Anhörung der Kinder nicht ausgegangen werden.

bb) Im Ergebnis ist aber mit dem Amtsgericht davon auszugehen, daß in Bezug auf A. der Ausnahmetatbestand des Art. 13 Abs. 1 lit. b HKÜ gegeben ist. Auch nach Auffassung des Senats ist die Rückgabe A.'s zum Vater zu verweigern, weil sie - wenn nicht mit der schwerwiegenden Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für das Kind verbunden - jedenfalls das Kind auf andere Weise in eine unzumutbare Lage bringt.

Der von dem Amtsgericht als tragend angesehene Gesichtspunkt der Geschwisterbindung wird unter den Begriff der »unzumutbaren Lage« subsumiert (Hausmann, Internationales und Europäisches Familienrecht 2. Aufl. [2018] Rdn. 222). Da die Geschwisterbindung in der Regel in hohem Maße für das Wohl und die soziale Entwicklung eines Kindes wichtig ist, sind Geschwistertrennungen - jedenfalls bei Sorgerechtsentscheidungen - grundsätzlich zu vermeiden. Würde nun die Rückführung eines Kindes zu einer manifestierten dauerhaften Trennung zu seinen Geschwistern führen, weil diese im Zufluchtsstaat zurückbleiben müßten, könnte dies eine für das Kind unzumutbare Lage bedeuten (BeckOGK/Markwardt, aaO HKÜ Art. 13 Rdn. 39). Ein Gesichtspunkt kann dabei auch sein, daß Kinder gerade in dem Hin und Her zwischen den Eltern aufeinander angewiesen sein können (Heiderhoff in MünchKomm, BGB 8. Aufl. HKÜ Art. 13 Rdn. 32).

Trotz des relativ großen Altersunterschieds ist auch in dem vorliegenden Fall die Geschwisterbindung von besonderer Bedeutung. Die Mutter hat bei ihrer Anhörung in diesem Zusammenhang das intakte Familienleben beschrieben, das auch darin bestehe, daß W. ihren jüngeren Bruder oft aus dem Hort abhole, und beide dann gemeinsam zum Bahnhof gingen, um die Mutter abzuholen. Gemeinsame Freizeitaktivitäten wie den Besuch des Schwimmbades hat die Mutter ebenso geschildert wie gemeinsame Spiele der Geschwister. Daß die Kinder früher Brettspiele zusammen gespielt haben, hat der Vater bestätigt. W. hat von einer polnischen Fernsehshow berichtet, die sie sich mit ihrem Bruder zusammen ansehe. A. hat angegeben, daß er mit seiner Schwester Brettspiele oder das Kartenspiel UNO spiele. Auch nach Einschätzung der Verfahrensbeiständin handelt es sich hier trotz des Altersunterschieds nicht um zwei Einzelkinder, sondern um Geschwister. Sie hat auch auf eine gewisse Versorgung des Jungen durch die ältere Schwester hingewiesen.

Im Hinblick auf diese Geschwisterbindung sind die beiden Kinder während der Anhörung durch den Senat konkret mit der Frage konfrontiert worden, wie es für sie wäre, wenn das jeweilige Geschwisterkind allein zum Vater zurückkehren würde. A. hat hierzu angegeben, er wäre traurig, wenn W. zum Vater nach Polen zurückkehrte, und er selbst bliebe bei der Mutter. Inwieweit ihn diese Vorstellung tatsächlich belastet, war nicht eindeutig erkennbar. Mithin könnte allein die Bindung A. an seine ältere Schwester die Annahme, er werde durch Rückführung zum Vater ohne seine Schwester in eine unzumutbare Lage geraten, nicht rechtfertigen.

Anders verhält es sich jedoch, wenn man die Geschwisterbindung auch unter dem Gesichtspunkt betrachtet, inwieweit für W. eine unzumutbare Lage eintreten könnte. W. hat, danach befragt, wie es wäre, wenn sich der Bruder für die Rückkehr zum Vater entscheiden würde, zunächst der Sorge Ausdruck verliehen, der Vater würde über die Mutter schlecht reden, und dann - auf sich bezogen - unter Tränen erklärt, es wäre traurig. Sie hat darauf hingewiesen, daß man seit acht Jahren - also seit der Geburt des Bruders - zusammenlebe, und es deshalb seltsam wäre, wenn alles auseinanderginge. In diesem Zusammenhang gewinnt die bereits wiedergegebene Äußerung W., sie würde sich zugunsten des deutlich jüngeren Bruders opfern und zum Vater nach Polen zurückkehren, erneut Bedeutung, denn W. macht sich ernsthafte Sorgen um ihren Bruder. Daß dieser alleine in den Haushalt des Vaters zurückkehren soll, ist für sie unvorstellbar. Würde diese Situation dennoch eintreten, wäre es für sie sehr belastend. Schon dieser Umstand kommt einer unzumutbaren Lage iSv Art. 13 Abs. 1 lit. b HKÜ jedenfalls nahe. Betrachtet man zusätzlich zu der Geschwisterbindung die weiteren besonderen Umstände des Einzelfalles, so würden beide Kinder durch die Rückgabe auch nur des Jungen an den Vater in eine unzumutbare Lage gebracht.

Allerdings bestehen hinsichtlich der Wohnbedingungen beim Vater keine grundsätzlichen Bedenken. Die nach seinen unwidersprochen gebliebenen Angaben in dem Senatstermin aus zwei Räumen mit einer Wohnfläche von insgesamt 49 m² bestehende Wohnung hat früher Platz für eine vierköpfige Familie geboten. Wenn der Vater dort nun mit den beiden Kindern oder gar nur mit seinem Sohn lebte, wäre in jedem Fall ausreichend Platz vorhanden.

Der Vater geht davon aus, er könne bezüglich der Betreuung und Versorgung seiner Kinder einfach an die Situation anknüpfen, die gegeben war, als er sich während der Erwerbstätigkeit der Mutter im Ausland überwiegend um die Kinder gekümmert hat. Daß der Vater seinerzeit den Haushalt geführt hat, ist unbestritten. Ob der Vater - was zwischen den Beteiligten streitig ist - zu stark dem Alkohol zugesprochen hat, und dabei womöglich auch die Betreuung der Kinder vernachlässigt hat, kann dahinstehen. Ebenso kann offenbleiben, ob die Mutter - wie sie in dem Senatstermin angegeben hat - während ihrer Erwerbstätigkeit im Ausland die Kinder nur mangels anderer Alternativen dem Vater anvertraut hat, weil dringend Geld zur Abzahlung von Krediten benötigt worden sei, denn selbst wenn man zugunsten des Vaters annähme, die Situation vor der Trennung der Eltern sei für die Kinder uneingeschränkt günstig gewesen, ändert dies nichts an der Tatsache, daß inzwischen Entwicklungen eingetreten sind, die befürchten lassen, daß das Wohl der Kinder beeinträchtigt wäre, wenn sie nun zum Vater nach Polen zurückkehren müßten. Dies gilt nicht nur in Bezug auf W., deren autonom entwickelter Wille, bei der Mutter in Deutschland bleiben zu wollen, gebrochen werden müßte, sondern auch in Bezug auf A.

Dabei ist zum einen zu berücksichtigen, daß sich die Kinder nun seit über einem Jahr zusammen mit der Mutter in Deutschland aufhalten. Auch wenn der Vater für diesen Zeitablauf grundsätzlich keine Verantwortung trägt, kann der Umstand, daß - anders als in den klassischen Entführungsfällen - eine Rückgabe der Kinder an den Elternteil, der Opfer der Entführung geworden ist, nicht zeitnah möglich war, nicht unberücksichtigt bleiben. Daher reicht es nicht aus, wenn der Vater - wie gegenüber dem Senat - verbal betont, er sei auf eine Rückkehr seiner Kinder vorbereitet, denn dazu gehört nicht allein ein Gespräch mit der Direktorin von A.'s Schule, wie es der Vater nach eigenen Angaben geführt hat. Daß sich A. in den polnischen Schulalltag wieder einfinden würde, kann angenommen werden. Auch soweit der Vater angegeben hat, in den früheren Fußballverein könne der Junge zurückkehren, da man dort auf ihn warte, kann dem gefolgt werden. Der Wechsel des Fußballvereins dürfte für A. kein großes Problem darstellen. Er hat bei seiner Anhörung angegeben, in Polen gern Fußball gespielt zu haben; Fußball spielen in Deutschland sei aber genauso schön.

Über diese eher formalen Aspekte der Einbindung in die Schule und Freizeitaktivitäten hinaus bedürfte es aber seitens des Vaters der einfühlsamen Auseinandersetzung mit der Situation, in der sich die Kinder nach einem Wechsel von dem Haushalt der Mutter in den Haushalt des Vaters befänden. Daß der Vater hierzu bereit und in der Lage ist, kann nicht angenommen werden. Bei seiner Anhörung in dem Beschwerdeverfahren hat er allein erklärt, er stelle sich vor, wieder so zu leben wie früher. Er wolle mit den Kindern nichts unter Zwang machen; psychologische Gutachten würden aber nicht benötigt. Dies deutet darauf hin, daß der Vater der Ansicht ist, eine Rückkehr der Kinder in seinen Haushalt auch ohne Hilfestellung durch Fachkräfte erfolgreich vollziehen zu können. Davon kann aber angesichts der Besonderheiten in dem vorliegenden Fall nicht ausgegangen werden.

Zum anderen verdient Beachtung, daß der Vater die Folgen der Trennung, die seine Frau vollzogen hat, offensichtlich noch nicht verarbeitet hat. So hat er ihr bei seiner Anhörung vor dem Senat wiederholt Manipulationen vorgeworfen. Angesichts dieser starken Vorbehalte gegenüber der Mutter besteht die Gefahr, daß der Vater gerade auch den Kindern gegenüber die Mutter »schlecht macht«. Diese Gefahr hatte gerade W. bei ihrer Anhörung betont, offensichtlich aufgrund eigener schlechter Erfahrungen. Vor diesem Hintergrund hat der Vater dem Senat auch nicht seine Bereitschaft vermitteln können, Kontakte seiner Kinder zur Mutter vorbehaltlos zuzulassen. Die Vorstellung, man könne wieder so leben wie früher, hat er auch mit der Feststellung verbunden, die Mutter habe »damals überwiegend mit Messenger-Diensten Kontakt zu den Kindern« gehabt. Das deutet darauf hin, daß es dem Vater ausreichend erscheint, wenn die Kinder über Fernkommunikationsmittel Kontakt zur Mutter halten. Dies ist aber angesichts der zentralen Bedeutung, die die Mutter gerade in dem letzten Jahr für die Kinder hatte, keineswegs ausreichend.

Hinzu kommt, daß die Beziehung zwischen W. und ihrem Vater offensichtlich gestört ist. Die Jugendliche hat unter Tränen eindrucksvoll beschrieben, wie sie sich gerade anläßlich der Beerdigung der Großmutter von dem Vater behandelt gefühlt habe, als wäre sie Luft, als wäre sie nicht sein Kind; sie habe sich als »fünftes Rad am Wagen« gefühlt. Der Vater hat die Störung der Beziehung zu der Tochter zwar in Abrede gestellt, und sein Verhältnis zu W. als ebenso eng wie sein Verhältnis zu A. beschrieben, und in diesem Zusammenhang auf das frühere gemeinsame Frühstück am Sonntag verwiesen. Den Eindruck, den W. insbesondere anläßlich der Beerdigung der Großmutter gewonnen hat, hat er aber nicht plausibel entkräften können. Dies gilt umso mehr, als es W. nach ihren glaubhaften Angaben nicht nur um einen Schlafplatz während der Beerdigung, sondern auch später nach der Rückkehr aus Bulgarien gegangen ist. Ebenfalls widersprüchlich sind die Angaben des Vaters bezüglich eines Geschenks, das er für W. besorgt habe. Im Hinblick auf die Begrüßung der Kinder an dem Tage der Anhörung vor dem Senat hat er von sich aus nur das für A. mitgeführte Geschenk erwähnt. Erst auf Nachfrage war dann auch von einem Geschenk für W. die Rede. Daß sich der Vater nicht mehr sicher war, ob er das Geschenk mitgenommen hat, ist, da es sich um ein Geschehen an dem Terminstag handelt, nicht nachvollziehbar. Dieser Umgang mit der Geschenkproblematik macht verständlich, warum W. bei ihrer Anhörung erklärt hatte, der Vater habe schon öfter Versprechungen gemacht, die er nicht gehalten habe, und sie habe auch nicht das Bedürfnis, noch etwas von ihm zu bekommen.

Vor diesem Hintergrund bestände, wenn A. allein in den Haushalt des Vaters zurückkehren würde, die Gefahr, daß der Junge nicht nur mitbekommt, daß sein Vater der Schwester eher verständnislos gegenüber steht, sondern daß auch Kontakte zwischen den Kindern, die über den Austausch mithilfe von Fernkommunikationsmitteln hinausgehen, kaum möglich sein werden. Auf die abschließende Bitte W.'s in dem Senatstermin, dem Vater solle nahegelegt werden, daß sie bei ihm auch übernachten dürfe, ist der Vater selbst nicht mehr eingegangen; dabei wären solche Besuche seiner Tochter umso mehr angezeigt, wenn ihr Bruder wieder in dem Haushalt des Vaters leben würde.

Schließlich hat die Verfahrensbeiständin in dem Senatstermin betont, daß der grundsätzliche Aufenthalt bei der Mutter für die Kinder Sicherheit und Stabilität bedeute. Dieser Aspekt ist nicht zu unterschätzen. Dabei kommt es nicht darauf an, ob die auf Angaben der Kinder gegründete weitere Einschätzung der Verfahrensbeiständin, in dem Haushalt des Vaters habe es seinerzeit keine ausreichende Stabilität gegeben, zutrifft, denn jedenfalls in der aktuellen Situation nach einem Aufenthalt der Kinder im Haushalt der Mutter seit über einem Jahr würde es ein Ende der stabilen Verhältnisse bedeuten, wenn die Kinder in den Haushalt des Vaters nach Polen zurückkehren müßten.

d) Der Zurückweisung der Beschwerde steht nicht etwa entgegen, daß die Besorgnis besteht, den Kindern könne es in dem Haushalt der Mutter, in dem sie seit über einem Jahr leben, nicht gut gehen. Der Vater hat allerdings vor dem Senat den über Fernkommunikationsmittel wahrgenommenen Eindruck wiedergegeben, wonach die Kinder vernachlässigt gewirkt hätten. Dieses pauschal geäußerte subjektive Empfinden wird aber durch objektive Anhaltspunkte nicht gestützt: Vor dem Senat jedenfalls wirkten die Kinder gepflegt. Die Vertreterin des Jugendamtes, die noch an dem Vortag des Senatstermins in dem Haushalt der Mutter war, hat nichts von Vernachlässigung berichtet.

e) Wenn nach alledem die Beschwerde ohne Erfolg bleibt, sollten die Eltern jedenfalls den Appell der Verfahrensbeiständin in dem Senatstermin ernst nehmen. Den Kindern müssen beide Elternteile erhalten bleiben. Wenn aufgrund dieser Entscheidung die Kinder weiterhin in dem Haushalt der Mutter in Deutschland leben, ist es daher zwingend erforderlich, daß beide regelmäßigen Kontakt mit dem Vater haben. Dies darf sich nicht nur auf den Austausch über Fernkommunikationsmittel beschränken. Die Mutter sollte daher, wann immer möglich, persönliche Kontakte der Kinder zu ihrem Vater zulassen. Besuchsreisen nach Polen, um Verwandte und Freunde zu treffen, oder aus Anlaß von Familienfeiern, könnten mit Begegnungen mit dem Vater verbunden werden. Der Vater sollte sich nicht nur den von W. geäußerten Wunsch zu Herzen nehmen, Besuche der Tochter in seinem Haushalt zukünftig zuzulassen; er sollte auch offen mit der Anregung seiner Kinder, wie sie in dem Senatstermin von der Verfahrensbeiständin wiedergegeben worden ist, umgehen, er könne sie ja auch in Deutschland besuchen.

III. 1. Die Kostenentscheidung beruht auf § 81 FamFG. Angesichts des Umstands, daß sich die Beschwerde des Vaters nur im Hinblick auf die Anwendung von Ausnahmetatbeständen nach Art. 13 HKÜ als unbegründet erweist, entspricht es nicht der Billigkeit, ihm unter Anwendung von § 84 FamFG die gesamten Verfahrenskosten aufzuerlegen.

2. Die Wertfestsetzung ergeht auf der Grundlage der §§ 40 Abs. 1, 45 Abs. 1 FamGKG. Auch der Verfahrenswert für die erste Instanz, den das Amtsgericht auf 8.000 € festgesetzt hat, ist gemäß § 55 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 FamGKG auf 4.000 € herabzusetzen; insoweit folgt der Senat der Anregung des Bundesamtes für Justiz in dem Schriftsatz vom 22. September 2021. Abgesehen davon, daß besondere Rechtsvorschriften zu beachten sind, ist der Arbeitsaufwand in Verfahren nach dem Haager Übereinkommen vom 25. Oktober 1980 über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung, wie dem vorliegenden, nicht übermäßig groß. Eine rasche Terminierung ist auch in den am häufigsten vorkommenden Kindschaftssachen, die dem Vorrang- und Beschleunigungsgebot des § 155 FamFG unterliegen, angezeigt. Im Hinblick auf das bereits angesprochene besondere Beschleunigungsgebot gemäß § 38 IntFamRVG besteht eine gewisse Nähe zu den Verfahren der einstweiligen Anordnung gemäß §§ 49 ff FamFG; insbesondere ist es auch hier grundsätzlich nicht angezeigt, im Wege der Amtsermittlung ein Sachverständigengutachten einzuholen, welches zusätzlichen Arbeitsaufwand erfordern würde.

3. Gegen diesen Beschluß ist kein Rechtsmittel gegeben (§ 40 Abs. 2 S. 4 IntFamRVG).

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