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OLG Brandenburg, Beschluß vom 05.10.2021 - 10 UF 74/21 - FD-Logo-500

OLG Brandenburg
Beschluß vom 05.10.2021 - 10 UF 74/21



Verfahrensrecht; Streit um die elterlichen Sorge; Zuständigkeit der Gerichte; gewöhnlicher Aufenthalt eines Kindes; Begründung eines neuen gewöhnlichen Aufenthalts bei Wechsel des Aufenthaltsortes.

BGB § 1671; FamFG §§ 122, 151, 152

1. Gewöhnlicher Aufenthalt eines Kindes ist der Ort des tatsächlichen Lebensmittelpunkts des Kindes (sein faktischer Daseinsmittelpunkt), der entsprechend dem Alter des Kindes den Schwerpunkt seiner sozialen und familiären Beziehungen darstellt.
2. Das bedeutet jedoch nicht, daß im Falle eines Wechsels des Aufenthaltsortes ein neuer gewöhnlicher Aufenthalt immer erst nach Ablauf einer entsprechenden Zeitspanne begründet werden könnte, und bis dahin der frühere gewöhnliche Aufenthalt fortbestehen würde; der gewöhnliche Aufenthalt an einem Ort wird vielmehr grundsätzlich schon dann begründet, wenn sich aus den Umständen ergibt, daß der Aufenthalt an diesem Ort auf eine längere Zeitdauer angelegt ist, und künftig der neue anstelle des bisherigen Aufenthaltsortes Daseinsmittelpunkt sein soll.

OLG Brandenburg, Beschluß vom 5. Oktober 2021 - 10 UF 74/21

Tenor
1. Auf die Beschwerde des Vaters wird der Beschluß des Amtsgerichts - Familiengericht - Rathenow vom 02.09.2021 (5 F 212/21) und das ihm zugrunde liegende Verfahren aufgehoben, und die Sache an das Amtsgericht - Familiengericht - Rathenow zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens, zurückverwiesen.
2. Der Verfahrenswert für das Beschwerdeverfahren wird auf 2.000 € festgesetzt.

Gründe
I. Die verfahrensbeteiligten Eltern, Vater und Mutter, streiten um das Sorgerecht für den im Jahre 2006 geborenen gemeinsamen Sohn M.

Die Ehe der Eltern ist geschieden, und die Elternschaft ist konfliktbeladen. M. lebte zusammen mit seinem im Jahre 2012 geborenen Bruder F. bei der Mutter in B. In den vergangenen Sommerferien verbrachte M. mehr Zeit bei dem Vater in Rathenow, als bei der Mutter. M. erwarb bei seinem Vater einen Mopedführerschein; der Vater schenkte ihm zum Geburtstag im Jahre 2021 ein Moped. Als die Mutter hiervon erfuhr, entstand ein Streit zwischen ihr und M. Im Zuge des sich vom 13. bis zum 20. August 2021 zuspitzenden Streits erklärte M., daß er beim Vater in Rathenow wohnen wolle, und zog auch bei seinem Vater ein. Am 20. August 2021 fand zudem ein Treffen von M. und seinen Eltern im Jugendamt statt.

Mit Antrag vom 23. August 2021 hat der Vater bei dem Amtsgericht - Familiengericht - Rathenow beantragt, ihm im Wege der einstweiligen Anordnung das Sorgerecht für M. zu übertragen. Der Wunsch von M., beim Vater zu wohnen, habe schon sehr lange bestanden, und der Streit sei bloß der Anlaß gewesen, den Wunsch umzusetzen. Da die Mutter jede Unterstützung verweigere, müsse er die Übertragung des Sorgerechts auf sich beantragen. Mit Beschluß vom 2. September 2021 hat das Amtsgericht den Antrag des Vaters nach vorherigem Hinweis mangels örtlicher Zuständigkeit zurückgewiesen. Die Entscheidung von M. zum Umzug sei ersichtlich im Zuge des Streits gefallen; es lägen jedoch keine Anhaltspunkte für eine Dauerhaftigkeit dieser Entscheidung vor. Daher sei das für den bisherigen und fortbestehenden Wohnsitz in B. zuständige Amtsgericht Waren (Müritz) zu der Entscheidung des Falles berufen. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten der Begründung wird auf den Beschluß Bezug genommen.

Hiergegen richtet sich die Beschwerde des Vaters vom 3. September 2021, mit der er die Aufhebung des amtsgerichtlichen Beschlusses mit dem Ziel der Weiterverfolgung seiner erstinstanzlichen Anträge verfolgt. Die Mutter verteidigt die amtsgerichtliche Entscheidung. Sie führt aus, daß der Vater seinen Wohnsitz in der Schweiz habe, und der Sohn daher in Rathenow bei seinem Vater keinen dauerhaften Aufenthalt nehmen könne. Auch habe sie M. nicht aus ihrem Haus »rausgeworfen«; es habe sich wegen des von ihr untersagten Fahrens mit dem Moped um eine kurzfristige und typische Trotzreaktion eines 15-Jährigen gehandelt. Das Jugendamt hat mit Schreiben vom 20. September 2021 mitgeteilt, daß M. bei einem Gespräch mit dem Jugendamt am 20. August 2021 geäußert habe, er wolle beim Vater bleiben; auch habe die Mutter bei diesem Gespräch geäußert, daß sie nicht davon ausgehe, bei dem Wunsch von M. handele es sich bloß um eine Laune.

Wegen der Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten in dem Beschwerdeverfahren wird auf die zu der Akte gereichten Schriftsätze Bezug genommen. Der Senat hat die Beteiligten darauf hingewiesen, daß er beabsichtige, ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden.

II. Die statthafte (§ 58 FamFG), form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde des Vaters gegen den amtsgerichtlichen Beschluß vom 2. September 2021 ist zulässig, und hat - zumindest vorläufig - Erfolg.

1. Gemäß § 69 Abs. 1 S. 2 FamFG ist die Sache an das Amtsgericht Rathenow zurückzuverweisen, denn das Amtsgericht Rathenow ist für die Entscheidung des Verfahrens gemäß § 152 Abs. 2 FamFG örtlich zuständig. Danach ist für die vorliegende Kindschaftssache das Gericht zuständig, in dessen Bezirk das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat.

Gewöhnlicher Aufenthalt eines Kindes ist der Ort des tatsächlichen Lebensmittelpunkts des Kindes (sein faktischer Daseinsmittelpunkt), der entsprechend dem Alter des Kindes den Schwerpunkt seiner sozialen und familiären Beziehungen darstellt. Das bedeutet jedoch nicht, daß im Falle eines Wechsels des Aufenthaltsorts ein neuer gewöhnlicher Aufenthalt immer erst nach Ablauf einer entsprechenden Zeitspanne begründet werden könnte, und bis dahin der frühere gewöhnliche Aufenthalt fortbestehen würde; der gewöhnliche Aufenthalt an einem Ort wird vielmehr grundsätzlich schon dann begründet, wenn sich aus den Umständen ergibt, daß der Aufenthalt an diesem Ort auf eine längere Zeitdauer angelegt ist, und künftig der neue anstelle des bisherigen Aufenthaltsortes Daseinsmittelpunkt sein soll (BGHZ 78, 293 = BGH FamRZ 1981, 135 = EzFamR EGBGB Art. 7 Nr. 1 Tz. 8; OLG Dresden NZFam 2014, 741; Hammer in Prütting/Helms, FamFG 5. Aufl. § 152 Rdn. 15; vgl. auch BGH FamRZ 1993, 798 = EzFamR EGBGB Art. 14 Nr. 2 = BGHF 8, 766 Tz. 21; OLG Köln FamRZ 2012, 1406; 2018, 462).

Nach den vorstehenden Maßstäben ist das Amtsgericht Rathenow unter Zugrundelegung des Vorbringens des Vaters zuständig. Danach hat M. nach einem Streit am 13. August 2021 mit der Mutter einige Sachen gepackt, und ist seitdem nicht mehr zu ihr nach B. zurückgekommen, sondern beim Vater eingezogen. Der Vater hat zudem ausgeführt, daß M. nun bei ihm wohnen wolle, und er einem Einzug von M. bei sich auch zugestimmt habe. Schon diese Umstände deuten darauf hin, daß der Aufenthalt von M. beim Vater auf längere Zeit angelegt ist.

Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, daß M. im August 2021 auch gegenüber Dritten - etwa dem Jugendamt - geäußert hat, daß er beim Vater dauerhaft wohnen wolle. Nach dem Vortrag des Vaters hat M. darüber hinaus erneut Anfang September 2021 beim Jugendamt mitgeteilt, daß er weiterhin beim Vater leben wolle. Dieser Vortrag spricht ebenfalls dafür, daß der Aufenthalt von M. beim Vater auch tatsächlich Daseinsmittelpunkt sein soll, weil M. eben dies andernfalls nicht Dritten, und insbesondere nicht dem Jugendamt mitgeteilt hätte. Hinzu kommt, daß M. nach dem Vorbringen seiner Mutter auch telefonisch für sie nicht mehr erreichbar sei, da seine bisherige Rufnummer nicht mehr funktioniere, und nach dem Vorbringen von M. kein Kontakt zu seiner Mutter möglich sei, weil sie seine Rufnummer »blockiere«. Das zeigt, daß die Bindungen von M. zu seinem bisherigen Lebensmittelpunkt in B. zumindest stark gelockert sind. In der Gesamtschau verbleibt danach kein Zweifel daran, daß unter Zugrundelegung des Vortrags des Vaters die sozialen Beziehungen von M. an dem Wohnort der Mutter durch einen neuen tatsächlichen Lebensmittelpunkt von M. beim Vater in Rathenow abgelöst worden sind.

Das Vorbringen der Mutter in dem Schriftsatz vom 27. September 2021 führt zu keinem anderen Ergebnis. Dabei kann der Senat offen lassen, ob das Vorbringen des Vaters zu dem Lebensmittelpunkt von M. in Rathenow doppelrelevant ist, und daher ohnehin als gegeben zu unterstellen wäre (vgl. hierzu BGHZ 217, 165 = FamRZ 2018, 457 = FuR 2018, 197; 212, 318 = NJW 2017, 827), denn die Mutter hat in ihrer eidesstattlichen Versicherung vom 24. September 2021 erklärt, daß M. nach den Vorstellungen des Vaters in ein in Rathenow gelegenes Haus der Lebensgefährtin des Vaters ziehen solle. Auch danach ist die Zuständigkeit des Amtsgerichts Rathenow begründet, da es auch für einen Lebensmittelpunkt von M. in dem Hause der Lebensgefährtin des Vaters in Rathenow zuständig wäre.

Da durch das Familiengericht noch keine Entscheidung in der Sache ergangen ist, weil das nach dem Vorstehenden zuständige Amtsgericht Rathenow - nach seiner Auffassung folgerichtig - eine Sachentscheidung abgelehnt hat, liegen die Voraussetzungen für eine Zurückverweisung gemäß § 69 Abs. 1 S. 2 FamFG vor.

2. Mit der Aufhebung und Zurückverweisung hat das Gericht erster Instanz auch über die Kosten der Beschwerde zu entscheiden (OLG Brandenburg FamRB 2012, 343; Abramenko in Prütting/Helms, aaO § 69 Rdn. 20).

Die Festsetzung des Verfahrenswertes für das Beschwerdeverfahren beruht auf §§ 40, 41, 45 Abs. 1 Nr. 1 FamGKG.

3. Gründe für die Zulassung der Rechtsbeschwerde liegen nicht vor.

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