Rechtsprechung Bundesverfassungsgericht
im Familienrecht und im Erbrecht 2022

Unterbringungsrecht; Fortdauer einer bereits lang andauernden Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus; Notwendigkeit hinreichender fachgerichtlicher Begründung der Gefahrenprognose(hier: Grundrechtsverletzung durch mangelnde Konkretisierung der zu erwartenden Straftaten sowie offensichtlich unzureichende Verhältnismäßigkeitsprüfung).
GG Art. 2, Art. 20, Art. 104; StGB §§ 63, 67d; BVerfGG § 93c
1. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beherrscht Anordnung und Fortdauer der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus. Um das Spannungsverhältnis zwischen dem Freiheitsanspruch des betroffenen Einzelnen und dem Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit auszugleichen, müssen Sicherungsbelange und der Freiheitsanspruch des Untergebrachten als wechselseitiges Korrektiv gesehen, und im Einzelfall gegeneinander abgewogen werden.
2. Im Rahmen der Entscheidung über die Aussetzung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 67d Abs 2 StGB) ist auf die Gefahr solcher rechtswidriger Taten abzustellen, die ihrer Art und ihrem Gewicht nach ausreichen, auch die Anordnung der Maßregel zu tragen. Dabei ist die von dem Untergebrachten ausgehende Gefahr hinreichend zu konkretisieren.
3. Die Beurteilung hat sich darauf zu erstrecken, ob und welche Art rechtswidriger Taten von dem Untergebrachten drohen, wie ausgeprägt das Maß der Gefährdung ist, und welches Gewicht den bedrohten Rechtsgütern zukommt. Zu erwägen sind das frühere Verhalten des Untergebrachten und von ihm bislang begangene Taten; abzuheben ist aber auch auf die seit der Anordnung der Maßregel veränderten Umstände, die für die künftige Entwicklung bestimmend sind.
4. Das zunehmende Gewicht des Freiheitsanspruchs bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung wirkt sich bei langdauernden Unterbringungen in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) auch auf die an die Begründung einer Entscheidung nach § 67d Abs 2 StGB zu stellenden Anforderungen aus. Mit dem immer stärker werdenden Freiheitseingriff wächst zudem die verfassungsgerichtliche Kontrolldichte.
5. Der mit zunehmender Vollzugsdauer wachsenden Bedeutung des Freiheitsrechts wird auch dadurch Rechnung getragen, daß der von § 67d Abs 6 S 3 StGB in Bezug genommene § 67d Abs 3 S 1 StGB die Fortsetzung der Unterbringung über zehn Jahre hinaus als Ausnahme von dem Regelfall der Erledigung normiert. Die Erledigung der Maßregel wird nicht von einer positiven, sondern ihr Fortbestand von einer negativen Prognose abhängig gemacht. Das Gesetz geht somit davon aus, daß sich die Gefährlichkeit nach Ablauf von zehn Jahren regelmäßig erledigt hat.
6. Tragen die Gründe einer Entscheidung über die Fortdauer einer bereits außergewöhnlich lange währenden Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§§ 63, 67d Abs 2 StGB) diesen Maßstäben nicht Rechnung, so ist das Grundrecht des Untergebrachten aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG verletzt, weil es an einer verfassungsrechtlich tragfähigen Grundlage für die Unterbringung fehlt.


Verfahrensrecht; Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde bei unterbliebener Anhörungsrüge im fachgerichtlichen Verfahren trotz wesentlicher Gehörsverletzung (hier: Erschöpfung des Rechtswegs bei Unterbringung zur Zwangsbehandlung und Voraussetzungen einer einstweiligen betreuungsrechtlichen Unterbringungsgenehmigung).
GG Art. 2; BGB §§ 1906, 1906a; PsychKG BE 2016; BVerfGG § 90
1. Nach dem Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde haben Beschwerdeführer über das Gebot der Erschöpfung des Rechtswegs im engeren Sinn hinaus alle nach Lage der Sache zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten zu ergreifen, um eine Korrektur der geltend gemachten Grundrechtsverletzung zu erwirken oder eine Grundrechtsverletzung zu verhindern.
2. Zu der Wahrung des Subsidiaritätsgrundsatzes kann es geboten sein, in dem fachgerichtlichen Verfahren eine Gehörsverletzung mit den gegebenen Rechtsbehelfen, insbesondere mit einer Anhörungsrüge, selbst dann anzugreifen, wenn sie mit der Verfassungsbeschwerde zwar keinen Gehörsverstoß (Art. 103 Abs. 1 GG) rügen wollen, durch den fachgerichtlichen Rechtsbehelf aber die Möglichkeit wahren, daß bei dessen Erfolg in den vor den Fachgerichten gegebenenfalls erneut durchzuführenden Verfahrensschritten auch andere Grundrechtsverletzungen beseitigt werden, durch die sie sich beschwert fühlen.
3. Der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs verpflichtet das entscheidende Gericht, die Ausführungen der Prozeßbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Geht das Gericht auf den wesentlichen Kern des Vortrags einer Partei zu einer Frage, die für das Verfahren von zentraler Bedeutung ist, in den Entscheidungsgründen nicht ein, so läßt dies auf die Nichtberücksichtigung des Vortrags schließen, sofern er nicht nach dem Rechtsstandpunkt des Gerichts unerheblich oder aber offensichtlich unsubstantiiert war.


Verfahrensrecht; ausschließliche Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte für die Überprüfung schulinterner Infektionsschutzmaßnahmen; verfassungsgemäße Ablehnung der Einleitung von Kindesschutzverfahren (§ 1666 BGB) betreffend infektionsschutzrechtliche Maßnahmen an Schulen.
GG Art. 101; BGB § 1666; FamFG §§ 70, 151; BVerfGG §§ 23, 92, 93
1. Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes, wonach § 1666 Abs. 4 BGB Familiengerichte nicht befugt, Anordnungen zu der Durchsetzung des Kindeswohles gegenüber Behörden und sonstigen Trägern der öffentlichen Gewalt zu erlassen (hier: bezogen auf schulinterne Infektionsschutzmaßnahmen gegen Corona), ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.
2. Auch nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts obliegt die gerichtliche Kontrolle von Behördenhandeln hinsichtlich Infektionsschutzmaßnahmen in den jeweiligen Schulen allein den Verwaltungsgerichten.


Elterliche Sorge; Unzulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde in einer Sorgerechtssache; fachgerichtliche Sachentscheidung über Beschleunigungsrechtsbehelfe (§§ 155b, 155c FamFG); kein Rechtsschutzbedürfnis auch für Verfassungsbeschwerde.
GG Art. 6; BGB § 1671; FamFG §§ 155b, 155c; BVerfGG §§ 23, 92
Ergeht in fachgerichtlichen Verfahren eine instanzbeendende Sachentscheidung, so entfällt mit dieser Entscheidung sowohl das Rechtsschutzbedürfnis für die auf die Beschleunigung des fachgerichtlichen Verfahrens gerichteten Rechtsbehelfe der Beschleunigungsrüge und -beschwerde, als auch das Rechtsschutzbedürfnis für eine auf Beschleunigung des fachgerichtlichen Verfahrens gerichteten Verfassungsbeschwerde.


Elterliche Sorge; Anforderungen an Sachaufklärung in familiengerichtlichen Verfahren über die Aufrechterhaltung eines Sorgerechtsentzugs mit Fremdunterbringung; keine Verletzung des Elternrechts bei lediglich telefonische Anhörung eines 15-jährigen Jugendlichen bei anderweitiger, hinreichend sicherer Entscheidungsgrundlage des Fachgerichts.
BGB § 1666; FamFG §§ 26, 68, 159; GG Art. 6, Art. 103
1. Der Schutz des Elternrechts (Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG) erstreckt sich auf die wesentlichen Elemente des Sorgerechts. Eine räumliche Trennung des Kindes von seinen Eltern gegen deren Willen stellt den stärksten Eingriff in das Elterngrundrecht dar, der nur unter strikter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes erfolgen oder aufrechterhalten werden darf: Art. 6 Abs. 3 GG gestattet diesen Eingriff nur unter strengen Voraussetzungen.
2. Die fachgerichtlichen Annahmen dazu, ob die Voraussetzungen für eine Trennung des Kindes von den Eltern im Einzelfall erfüllt sind, unterliegen wegen des besonderen Eingriffsgewichts einer strengen verfassungsgerichtlichen Überprüfung. Der verfassungsgerichtliche Kontrollmaßstab kann sich ausnahmsweise auch auf einzelne Auslegungsfehler sowie auf deutliche Fehler bei der Feststellung und Würdigung des Sachverhalts erstrecken.
3. Deutliche Fehler bei der Feststellung des Sachverhalts liegen jedenfalls dann vor, wenn nicht hinreichend erkennbar wird, auf welche Erkenntnisgrundlage die Gerichte ihre tatsächlichen Annahmen stützen. Gleiches kommt in Betracht, wenn die Erkenntnisquellen des Gerichts zu einer entscheidungserheblichen Frage inhaltlich voneinander abweichen, und das Gericht in einem solchen Fall nicht weitere Erkenntnisquellen nutzt oder nicht deutlich macht, aus welchem Grunde es einer der voneinander abweichenden Erkenntnisquellen folgt.
4. Vor diesem Hintergrund ist es in fachrechtlicher Hinsicht bedenklich, wenn die Gerichte ein von dem zuständigen Abteilungsrichter des Familiengerichts geführtes Telefongespräch mit dem von einer Sorgerechtsentziehung mit Fremdunterbringung betroffenen Minderjährigen (hier: 15-Jähriger) als persönliche Anhörung im Sinne von § 159 FamFG ausreichen lassen. Die Vorschrift verlangt grundsätzlich, daß ein 15-jähriges Kind durch das Gericht persönlich anzuhören ist.
5. Steht der Entzug der elterlichen Sorge bezüglich dieses Kindes in Rede, und sind insofern die Neigungen, Bindungen oder der Wille des Kindes für die Entscheidung von Bedeutung, dann muß sich das Gericht selbst einen persönlichen Eindruck von dem Kind verschaffen, also das Kind visuell und akustisch wahrnehmen.
6. Selbst unter der Geltung des strengen verfassungsgerichtlichen Kontrollmaßstabes geht aber nicht mit jedem Verstoß gegen einfaches Recht stets eine Verletzung von Verfassungsrecht einher: Verfassungsrechtlich kommt es bei der Beurteilung eines Eingriffs in das Elternrecht darauf an, ob die Gerichte den Sachverhalt dergestalt ermittelt haben, daß eine möglichst zuverlässige Tatsachengrundlage für eine am Wohl des Kindes orientierte Entscheidung vorliegt.
7. Hat das Gericht aber eine zuverlässige Tatsachengrundlage für eine an dem Kindeswohl orientierte Entscheidung ermittelt, dann kann selbst der vollständige Verzicht auf eine einfachrechtlich vorgesehene persönliche Anhörung in Sorgerechtsangelegenheiten mit Verfassungsrecht in Einklang stehen, wenn er mit dem Zweck der betroffenen Anhörungsregelung vereinbar ist. Entsprechendes gilt - selbst bei der durch Art. 6 Abs. 3 GG gebotenen strengen verfassungsrechtlichen Kontrolle - im Fall einer den fachrechtlichen Anforderungen wohl nicht genügenden Durchführungsform der Kindesanhörung.


Umgangsrecht; Umgang des Kindes mit den Eltern; Unzulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde in einer umgangsrechtlichen Sache; kein Rechtsschutzbedürfnis bezüglich Beschleunigungsrüge in einem Umgangsverfahrens nach verfahrensabschließender fachgerichtlicher Entscheidung (hier: Einsetzung eines Umgangspflegers).
GG Art. 6, Art. 20; BGB § 1684; FamFG §§ 155b, 155c; BVerfGG §§ 23, 92
Mit einer instanzbeendenden fachgerichtlichen Entscheidung entfällt nicht nur das Rechtsschutzbedürfnis für die auf die Beschleunigung des fachgerichtlichen Verfahrens gerichteten Rechtsbehelfe der Beschleunigungsrüge und -beschwerde (§§ 155b, 155c FamFG), sondern auch das Rechtsschutzbedürfnis für eine wegen der Zurückweisung jener Rechtsbehelfe erhobene Verfassungsbeschwerde.


Unterbringungsrecht; vorherige und nachträglich richterliche Anordnung für Freiheitsentzug; Voraussetzungen der Fixierung bei stationärem Klinikaufenthalt; Erfordernis eines richterlichen Bereitschaftsdienstes bezüglich Anordnung bzw. Genehmigung freiheitsentziehender Maßnahmen.
GG Art. 2, 104; ZPO § 758a; PsychKG BY, BVerfGG §§ 23, 92, 93a
1. Der Freiheitsentzug erfordert grundsätzlich eine vorherige richterliche Anordnung; eine nachträgliche richterliche Entscheidung ist nur dann zulässig, wenn der mit der Freiheitsentziehung verfolgte verfassungsrechtlich zulässige Zweck nicht erreichbar wäre, sofern der Maßnahme die richterliche Entscheidung vorausgehen müßte. Art. 104 Abs. 2 S. 2 GG fordert in einem solchen Falle, die richterliche Entscheidung unverzüglich nachzuholen.
2. Aufgrund ihrer besonderen Eingriffsintensität ist die nicht nur kurzfristige Fixierung sämtlicher Gliedmaßen auch im Rahmen eines bereits bestehenden Freiheitsentzugs als eigenständige Freiheitsentziehung zu qualifizieren, die den Richtervorbehalt des Art. 104 Abs. 2 S. 1 GG abermals auslöst. Insofern bedarf es eines täglichen richterlichen Bereitschaftsdienstes, der - in Orientierung an § 758a Abs. 4 S. 2 ZPO - den Zeitraum von 6 Uhr bis 21 Uhr abdeckt.


Umgangsrecht; Umgang des Kindes mit den Eltern; Pflicht der Eltern zum Kindesumgang (§ 1684 Abs. 1 BGB) mit Blick auf Elternverantwortung (Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG); Abgrenzung gegenüber BVerfGE 121, 69 hinsichtlich der Rechtfertigung der Androhung einer zwangsweisen Durchsetzung der Umgangspflicht durch fachgerichtlichen Hinweis gemäß § 89 Abs. 2 FamFG.
GG Art. 1, Art. 2, Art. 6; BGB § 1684; FamFG § 89; BVerfGG §§ 23, 92
1. Das Grundrecht auf Schutz der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG) schützt den engeren persönlichen Lebensbereich und damit auch den familiären Bereich sowie die persönlichen Beziehungen zu den anderen Familienmitgliedern. Eine Verpflichtung zum Umgang mit dem Kind, den der Elternteil gar nicht oder nicht in der gerichtlich geregelten Weise will, greift in das Persönlichkeitsrecht des betroffenen Elternteils ein. Demgegenüber sichert Art. 6 Abs. 1 GG vor allem die zwischen den Familienmitgliedern konsensuale freie Entscheidung über die Art und Weise der Gestaltung des familiären Zusammenlebens.
2. Der Eingriff in das Persönlichkeitsrecht des Elternteils im Hinblick auf die den Eltern obliegende Verantwortung für ihre Kinder (Art. 6 Abs. 2 S 1 GG) ist grundsätzlich gerechtfertigt. Dieser Elternverantwortung trägt § 1684 Abs. 1 BGB Rechnung, indem er den Umgang mit dem Kind zur elterlichen Pflicht erhebt: Es ist einem Elternteil grundsätzlich zumutbar, auch unter Beeinträchtigung seiner Persönlichkeitssphäre zu dem Umgang mit seinem Kind verpflichtet zu werden, wenn dies dem Kindeswohle dient.
3. Umgang mit dem Kind, der nur mit Zwangsmitteln gegen seinen umgangsunwilligen Elternteil durchgesetzt werden kann, dient in der Regel nicht dem Kindeswohle. Davon kann nicht in gleicher Weise bei der Vollstreckung des Umgangs gegen einen Elternteil ausgegangen werden, der den Umgang mit den Kindern wünscht, diesen aber nur in geringerem Umfang wahrnehmen möchte, als gerichtlich festgelegt.
4. Das zu dem früheren Recht ergangene Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 1. April 2008 (BVerfGE 121, 69 = FamRZ 2008, 845 = FuR 2008, 334) zu erzwungenem Umgang ist nicht ohne weiteres auf die aktuelle Rechtslage übertragbar. Jedenfalls liegt nicht auf der Hand, daß ein Hinweis nach § 89 Abs 2 FamFG auf den betroffenen Elternteil dieselbe Zwangswirkung hat wie eine Androhung eines Zwangsmittels nach früherem Recht.
5. Aus der Erteilung des Hinweises auf Ordnungsmittel nach § 89 Abs. 2 FamFG kann nicht in gleicher Weise wie bei der Androhung des Zwangsmittels nach § 33 Abs. 3 S. 1 FGG a.F. darauf geschlossen werden, daß ein Verstoß gegen eine Verpflichtung aus einer Umgangsregelung zwingend die Anordnung von Ordnungsmitteln nach sich zieht (Abgrenzung zu BVerfGE 121, 69 = FamRZ 2008, 845 = FuR 2008, 334). Das Anordnungsermessen, im Rahmen dessen auch die Kindeswohldienlichkeit zu prüfen ist, kann das Gericht erst bei der Entscheidung über die Reaktion auf einen Verstoß gegen die Umgangsregelung ausüben (§ 89 Abs 1 FamFG).


Elterliche Sorge; unzureichende Begründung eines Eilantrages in einer sorgerechtlichen Sache.
FamFG §§ 57, 58; BVerfGG §§ 23, 32, 90, 92
1. Zu der hinreichenden Begründung eines Antrages auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung gemäß § 32 Abs. 1 BVerfGG muß die antragstellende Person grundsätzlich auch die für eine hinreichende Begründung der Verfassungsbeschwerde (§§ 23 Abs. 1 S. 2, 92 BVerfGG) erforderlichen Unterlagen vorlegen; hierzu gehören insbesondere der angegriffene Hoheitsakt sowie die zu seinem Verständnis notwendigen Unterlagen, die zumindest ihrem Inhalt nach so dargestellt werden müssen, daß eine verantwortbare verfassungsrechtliche Beurteilung erfolgen kann.
2. Damit das Bundesverfassungsgericht beurteilen kann, ob eine noch zu erhebende Verfassungsbeschwerde von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet ist, muß auch zu der nach § 90 Abs. 2 S. 1 BVerfGG grundsätzlich erforderlichen Erschöpfung des fachgerichtlichen Rechtsweges vorgetragen werden.


Umgangsrecht; Umgang des Kindes mit den Eltern; einstweiliges Anordnungsverfahren; Unzulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde mangels hinreichenden Vortrags zu der Erschöpfung des fachgerichtlichen Rechtsweges (hier: unzureichende Angaben zu dem weiteren Verfahrensverlauf nach Erlaß der einstweiligen Anordnung ohne mündliche Verhandlung).
GG Art. 6; FamFG §§ 49 ff, 51, 54; BVerfGG §§ 23, 92
Zu der Unzulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde mangels hinreichenden Vortrags zu der Erschöpfung des fachgerichtlichen Rechtsweges im Rahmen eines einstweiligen Anordnungsverfahrens nach §§ 49 ff FamFG.


Betreuungsrecht; Berücksichtigung naher Familienangehöriger bei der Betreuerbestellung; Verletzung des Art. 6 Abs. 1 GG durch Entlassung von Familienmitgliedern als Betreuer ihrer Tochter bzw. Schwester.
GG Art. 6; BGB §§ 1837, 1897, 1899; BVerfGG § 93c
1. Der Schutz des Familiengrundrechts (Art. 6 Abs. 1 GG) zielt generell auf den Schutz spezifisch familiärer Bindungen, wie sie auch zwischen erwachsenen Familienmitgliedern bestehen können.
2. Dem Schutze der Familie ist auch bei der Bestellung eines Betreuers Rechnung zu tragen: Art. 6 Abs. 1 GG gebietet eine bevorzugte Berücksichtigung der (nahen) Familienangehörigen jedenfalls dann, wenn eine tatsächlich eine tatsächlich von familiärer Verbundenheit geprägte engere Bindung besteht. Dem trägt einfachrechtlich die Regelung des § 1897 Abs. 5 BGB Rechnung.
3. Erklärt sich ein Familienangehöriger bereit, die Betreuung zu übernehmen, und steht dem kein Vorschlag des Betroffenen entgegen, dann muß die Bestellung eines familienfremden Betreuers unter Berücksichtigung des in § 1897 Abs 5 BGB zum Ausdruck kommenden Schutzes der Familie im Hinblick auf den konkret in Rede stehenden Aufgabenkreis und die Erfordernisse einer persönlichen Betreuung begründet werden; dabei ist auch die Regelung des § 1899 Abs 1 S. 1 BGB einzubeziehen, wonach eine weitere Person als Mitbetreuer bestellt werden kann, um der fehlenden Eignung hinsichtlich (nur) einzelner Aufgabenkreise Rechnung zu tragen.
4. Diese Grundsätze gelten auch bei Entscheidungen über die Entlassung eines Betreuers.


Elterliche Sorge; Eilantrag auf Aussetzung einer sorgerechtlichen Entscheidung; drohender mehrfacher Wechsel des gesamten Lebensumfeldes und der Bezugspersonen bei Nichtergehen der einstweiligen Anordnung als überwiegender, gravierender Nachteil; Folgenabwägung.
GG Art. 6; BGB §§ 1632, 1666; BVerfGG § 32
Zu den Voraussetzungen, unter denen im Verfassungsbeschwerdeverfahren eine einstweilige Anordnung (§ 32 Abs 1 BVerfGG) ergehen kann.


Betreuungsrecht; potentielle Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör durch amtsgerichtlichen Beschluß über die Beauftragung eines Sachverständigengutachtens bei fehlender vorheriger Anhörung des Betroffenen; einstweilige Anordnung im Verfassungsbeschwerdeverfahren; Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde bei unterbliebener Anhörungsrüge; Folgenabwägung.
GG Art. 103; BGB §§ 1896 ff; FamFG §§ 44, 58, 283; BVerfGG § 32
1. Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet die Gerichte, vor dem Erlaß einer Entscheidung zu prüfen, ob dem Verfahrensbeteiligten rechtliches Gehör gewährt wurde. Maßgebend für diese Pflicht des Gerichts ist der Gedanke, daß der Verfahrensbeteiligte Gelegenheit haben muß, die Willensbildung des Gerichts zu beeinflussen.
2. Art. 103 Abs. 1 GG kann verletzt sein, wenn die Gerichte in einem Betreuungsverfahren ein Sachverständigengutachten zu den medizinischen Voraussetzungen einer Betreuung in Auftrag geben, ohne dem Betroffenen vorher die Möglichkeit zur Stellungnahme einzuräumen. Dies kann auch dann gelten, wenn in dem Beschluß noch keine zwangsweise Untersuchung und Vorführung des Betroffenen angeordnet wurde.
3. Die vorherige Anhörung des Betroffenen erhält zu dem Schutze seiner Rechte besondere Bedeutung, da ein Rechtsmittel gegen die Beauftragung des Gutachters gemäß § 58 Abs. 2 FamFG jedenfalls nicht ausdrücklich vorgesehen ist.
4. Ist eine Anhörungsrüge gegen eine Zwischenentscheidung über die Beauftragung eines Sachverständigen mit der Erstellung eines Gutachtens in einem Betreuungsverfahren unterblieben, so steht dies der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde jedenfalls im Falle eines nicht anwaltlich vertretenen Beschwerdeführers nicht entgegen, denn ihm kann die Einlegung eines Rechtsbehelfs, der nach dem Gesetzeswortlaut nicht vorgesehen ist, und dessen Statthaftigkeit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bislang offengelassen wurde, nicht zugemutet werden.


Betreuungsrecht; Nichtannahme einer nach Wegfall des Rechtsschutzinteresses unzulässigen Verfassungsbeschwerde; Anordnung der Auslagenerstattung aus Billigkeitsgründen bei ursprünglicher offensichtlicher Begründetheit der Verfassungsbeschwerde.
GG Art. 103; BGB § 1908b; BVerfGG §§ 34a, 90
1. Es entspricht unter anderem dann der Billigkeit im Sinne des § 34a Abs 3 BVerfGG, die Erstattung der Auslagen in dem Falle einer Erledigung anzuordnen, wenn die Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet gewesen wäre.
2. In einem solchen Falle steht es einer Auslagenerstattung nicht entgegen, wenn der Beschwerdeführer in Verkennung der prozessualen Lage die Verfassungsbeschwerde nicht für erledigt erklärt.


Verfahrensrecht; Anforderungen an die Begründung eines Vorlagebeschlusses in Verfahren der konkreten Normenkontrolle; unzulässige Richtervorlage zu der Verfassungsmäßigkeit des § 1 Abs. 1 VBVG (keine hinreichende Darlegung der Entscheidungserheblichkeit der vorgelegten Norm).
GG Art. 12, Art. 100; BGB §§ 1836, 1896, 1897, 1908i; VBVG § 1; BVerfGG § 80
Zu den Anforderungen an die Begründung eines Vorlagebeschlusses in Verfahren der konkreten Normenkontrolle.


Beratungshilfe: Ablehnung von Beratungshilfe für sozialrechtliches Widerspruchsverfahren; Verletzung des Anspruchs auf Rechtswahrnehmungsgleichheit (hier: Anrechnung von Betriebskostenguthaben auf den Leistungsanspruch des Leistungsempfängers nach § 22 Abs. 3 SGB II als schwierige Rechtsfrage, hinsichtlich derer nicht auf Selbsthilfe verwiesen werden darf).
GG Art. 3, Art. 20; BerHG §§ 1, 2, 11; SGB II §§ 19 ff, 22; BVerfGG § 93c
1. Unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten stellt die Versagung von Beratungshilfe keinen Verstoß gegen das Gebot der Rechtswahrnehmungsgleichheit (Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs 1 und 3 GG) dar, wenn Bemittelte wegen ausreichender Selbsthilfemöglichkeiten die Inanspruchnahme anwaltlicher Hilfe vernünftigerweise nicht in Betracht ziehen würden. Ob diese zu der Beratung notwendig ist, oder Rechtsuchende zumutbar auf Selbsthilfe verwiesen werden können, hat das Fachgericht unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalles abzuwägen.
2. Maßgeblich kommt es darauf an, ob der dem Beratungsanliegen zugrunde liegende Sachverhalt schwierige Tatsachen- oder Rechtsfragen aufwirft, und ob Rechtsuchende selbst über ausreichende Rechtskenntnisse verfügen. Keine zumutbare Selbsthilfemöglichkeit ist jedoch die pauschale Verweisung auf die Beratungspflicht der Behörde, die den angegriffenen Bescheid erlassen hat.
3. Ein Beratungshilfebegehren ist nicht mutwillig, wenn die Zweifel sich auf konkrete Punkte des Bescheides beziehen; eine nähere Erläuterung kann von einem rechtsunkundigen Beschwerdeführer nicht erwartet werden.


Verfassungsrecht; von der Kinderzahl unabhängige Beitragsbelastung von Eltern in der sozialen Pflegeversicherung; gleiche Beitragsbelastung von Eltern und Beitragspflichtigen ohne Kinder in der gesetzlichen Renten- und Krankenversicherung.
GG Art. 3, Art. 6, Art. 80, Art. 100, Art. 103; SGB V § 10; SGB VI §§ 56, 70; SGB XI §§ 55, 57; BVerfGG §§ 23, 92, 93
1. Bei der Erhebung von Sozialversicherungsbeiträgen erfordert Art. 3 Abs. 1 GG die Beachtung des aus dem allgemeinen Gleichheitssatz abgeleiteten Gebots der Belastungsgleichheit, das sich auf alle staatlich geforderten Abgaben erstreckt. Wirken sich Beitragsregelungen innerhalb der Gruppe der Familien zu Lasten bestimmter Familienkonstellationen nachteilig aus, so muß der Staat den besonderen Schutz beachten, den er der Familie nach Art. 6 Abs. 1 GG schuldet.
2. Aus Art. 3 Abs. 1 GG folgt das Gebot, wesentlich Gleiches gleich (Differenzierungsverbot) und wesentlich Ungleiches ungleich (Differenzierungsgebot) zu behandeln.
a) Bei formal gleichbehandelnden Vorschriften ist der allgemeine Gleichheitssatz in seiner Ausprägung als Differenzierungsverbot einschlägig, wenn durch sie eine Belastungsungleichheit normativ veranlaßt wird; demgegenüber ist Art. 3 Abs. 1 GG in seiner Ausprägung als Differenzierungsgebot in Ansatz zu bringen, wenn die Belastungsungleichheit auf tatsächlichen Ungleichheiten des zu ordnenden Lebenssachverhalts beruht.
b) Für die verfassungsrechtliche Rechtfertigung einer Gleichbehandlung von wesentlich Ungleichem sind im Ausgangspunkt die für die Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen geltenden Maßstäbe in Ansatz zu bringen.
c) Die Verhältnismäßigkeitsprüfung ist darauf zu beziehen, ob gerade die nicht differenzierende Regelung einem legitimen Zweck dient und zur Erreichung dieses Zwecks geeignet, erforderlich und verhältnismäßig im engeren Sinne ist.
d) Eine Gleichbehandlung von wesentlich Ungleichem ist dann nicht erforderlich, wenn der Gesetzgeber durch eine stärker zugunsten der hierdurch Benachteiligten differenzierende Regelung das angestrebte Regelungsziel ohne Belastung Dritter oder der Allgemeinheit gleich wirksam erreichen oder fördern kann.
Im Sozialversicherungsrecht ist der Gesetzgeber aber nicht gehalten, eine eventuell gebotene Besserstellung einzelner Versicherter durch einen Steuerzuschuß zu finanzieren. Mildere Mittel sind nicht solche, die eine Kostenlast lediglich verschieben.
e) Eine Gleichbehandlung von wesentlich Ungleichem ist nur dann verhältnismäßig im engeren Sinne, wenn die Bedeutung der mit der gleichen Behandlung verfolgten Ziele in einem angemessenen Verhältnis zu der tatsächlichen Ungleichheit des zu ordnenden Lebenssachverhalts und zum Ausmaß der sich hieraus bei gleicher Behandlung ergebenden Benachteiligung stehen.
3. In der sozialen Pflegeversicherung führt die von der Kinderzahl unabhängige gleiche Beitragsbelastung von Eltern zu einer verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigten Gleichbehandlung von wesentlich Ungleichem.
In der gesetzlichen Rentenversicherung und der gesetzlichen Krankenversicherung begründet die gleiche Beitragsbelastung von Eltern und Beitragspflichtigen ohne Kinder dagegen keine Benachteiligung der Eltern, weil durch die rentenrechtliche Anerkennung von Kindererziehungszeiten und die beitragsfreie Familienversicherung im Krankenversicherungsrecht ein hinreichender Nachteilsausgleich erfolgt.
BVerfG, Beschluß vom 7. April 2022 - 1 BvL 3/18
BVerfG, Beschluß vom 7. April 2022 - 1 BvL 3/18 - englisch




Elterliche Sorge; vorläufiger Sorgerechtsentzug und Inobhutnahme eines Kindes; Zweifel hinsichtlich Erfüllung verfassungsrechtlicher Anforderungen an die Feststellung einer Kindeswohlgefährdung durch die Fachgerichte; Unzulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde unter anderem mangels Rechtswegerschöpfung und Fristwahrung.
GG Art. 6; BGB §§ 1626, 1666a; BVerfGG §§ 23, 90, 92, 93
1. Eine räumliche Trennung des Kindes von seinen Eltern gegen deren Willen stellt den stärksten Eingriff in das Elterngrundrecht dar, der nur unter strikter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes erfolgen oder aufrechterhalten werden darf: Art. 6 Abs 3 GG erlaubt diesen Eingriff lediglich unter der strengen Voraussetzung, daß das elterliche Fehlverhalten ein solches Ausmaß erreicht, daß das Kind bei den Eltern in seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet wäre.
2. Eine solche Gefährdung des Kindes ist dann anzunehmen, wenn bei ihm bereits ein Schaden eingetreten ist, oder sich eine erhebliche Gefährdung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen läßt.
3. Aus Art 6 Abs 2 und Abs 3 GG ergibt sich für die Fachgerichte das Gebot, die dem Kind drohenden Schäden ihrer Art, Schwere und Eintrittswahrscheinlichkeit nach konkret zu benennen, und sie vor dem Hintergrund des grundrechtlichen Schutzes vor der Trennung des Kindes von seinen Eltern zu bewerten. Die Fachgerichte werden dem regelmäßig nicht gerecht, wenn sie ihren Blick nur auf die Verhaltensweisen der Eltern lenken, ohne die sich daraus ergebenden schwerwiegenden Konsequenzen für das Kind darzulegen.
4. Weiterhin sind die negativen Folgen einer Trennung des Kindes von den Eltern durch eine Fremdunterbringung zu berücksichtigen, und müssen durch die hinreichend gewisse Aussicht auf Beseitigung der festgestellten Gefahr aufgewogen werden, so daß sich die Situation des Kindes in der Gesamtbetrachtung verbessert.
5. Auch in einem einstweiligen Anordnungsverfahren sind unter Berücksichtigung der in Eilverfahren vorhandenen Möglichkeiten nachvollziehbare Ausführungen zu der konkreten Art und zu dem Gewicht der Gefahren, die dem Kind bei einem Verbleib in dem elterlichen Haushalt drohen könnten, sowie zu einer richterlichen Einschätzung der zeitlichen Dringlichkeit der Fremdunterbringung verfassungsrechtlich notwendig.


Betreuungsrecht; betreuungsgerichtliches Verfahren; Mißachtung des § 275 FamFG (Verfahrensfähigkeit des Betroffenen unabhängig von Geschäftsfähigkeit); Verletzung der Rechtsschutzgarantie (Art. 2 Abs. 1 iVm Art. 20 Abs. 3 GG); Unzulässigkeit der Verfassungsbeschwerde mangels hinreichender Begründung.
GG Art. 2, Art. 20; BGB § 1896; FamFG § 275; BVerfGG §§ 23, 92
1. Die in Betreuungsverfahren gemäß § 275 FamFG unabhängig von ihrer Geschäftsfähigkeit bestehende Verfahrensfähigkeit der Betroffenen ist Ausdruck der Anerkennung ihrer Menschenwürde und ihres Persönlichkeitsrechts; dabei befähigt § 275 FamFG die betroffene Person unter anderem dazu, eine Verfahrensvollmacht auch bei Fehlen eines natürlichen Willens zu erteilen.
2. Mißachtet ein Gericht im Betreuungsverfahren die Vorschrift des § 275 FamFG, indem es die Beschwerde der betroffenen Person in nicht nachvollziehbarer Weise unter Hinweis auf deren fehlende Geschäftsfähigkeit verwirft, so verletzt dies den Anspruch auf effektiven Rechtsschutz.


Verfassungsrecht; mangels hinreichender Substantiierung unzulässige Verfassungsbeschwerde eines Inhaftierten in einer Umgangssache; keine hinreichende Darlegung der Verletzung der Rechtsschutzgleichheit oder des Elternrechts.
GG Art. 3, Art. 6, Art. 20; BGB § 1684; FamFG § 76; ZPO § 114; BVerfGG §§ 23, 92
1. Zu den Anforderungen der §§ 23 Abs. 1 S. 2, 92 BVerfGG an die hinreichende Begründung einer Verfassungsbeschwerde: In der Regel bedarf es einer ins Einzelne gehenden argumentativen Auseinandersetzung mit der angegriffenen Entscheidung und ihrer Begründung, wobei auch darzulegen ist, inwieweit das jeweils bezeichnete Grundrecht verletzt sein, und mit welchen verfassungsrechtlichen Anforderungen die angegriffene Maßnahme kollidieren soll.
2. Auf die Einhaltung der Begründungsanforderungen kann ausnahmsweise verzichtet werden, wenn eine Grundrechtsverletzung auf der Hand liegt.


Verfassungsrecht; Verfassungswidrigkeit des § 62 Abs. 2 Nr. 3 b) EStG; Beschränkung der Kindergeldberechtigung nicht freizügigkeitsberechtigter Ausländer; Beschränkung der Kindergeldgewährung auf dauerhaft in Deutschland ansässige Personen als legitimes Ziel; Ungeeignetheit des Kriteriums einer Integration in den Arbeitsmarkt zur Prognose der Aufenthaltsdauer.
GG Art. 3, Art. 105; §§ 23, 23a, 24, 25; EStG § 62
§ 62 Abs. 2 Nr. 3 b) EStG in der Fassung des Gesetzes zur Anspruchsberechtigung von Ausländern wegen Kindergeld, Erziehungsgeld und Unterhaltsvorschuß vom 13.12.2006 (BGBl I 2915) ist mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar und nichtig.
BVerfG, Beschluß des Zweiten Senats vom 28. Juni 2022 - 2 BvL 9/14


Elterliche Sorge; Ablehnung der Übertragung des Sorgerechts auf den Vater; Trennung des Kindes von seinen Eltern; strengere Anforderungen an den Verzicht auf eine Kindesanhörung durch die Neuregelung des § 68 Abs. 5 Nr. 1 FamFG; mangelnde Darlegung einer möglichen Verletzung des Elternrechts.
GG Art. 6; BGB §§ 1592, 1696; FamFG §§ 68, 159
1. Eine räumliche Trennung des Kindes von seinen Eltern gegen deren Willen stellt den stärksten Eingriff in das Elterngrundrecht dar, der nur unter strikter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes erfolgen oder aufrechterhalten werden darf.
2. Begehren Eltern die Rückführung ihres in einer Pflegefamilie lebenden Kindes, müssen bei der Kindeswohlprüfung die Tragweite der Trennung des Kindes von seiner Pflegefamilie und die Erziehungsfähigkeit der Ursprungsfamilie auch im Hinblick auf ihre Eignung berücksichtigt werden, die negativen Folgen einer Traumatisierung des Kindes gering zu halten. Das Kindeswohl gebietet es, die neuen gewachsenen Beziehungen des Kindes zu seinen Pflegepersonen zu bedenken und das Kind aus seiner Pflegefamilie lediglich herauszunehmen, wenn die körperlichen, geistigen oder seelischen Beeinträchtigungen des Kindes als Folge der Trennung von den bisherigen Bezugspersonen unter Berücksichtigung der Grundrechtsposition des Kindes noch hinnehmbar sind.
3. In Sorgerechtsverfahren haben die Familiengerichte das Verfahren so zu gestalten, daß es geeignet ist, eine möglichst zuverlässige Grundlage für eine an dem Kindeswohle orientierte Entscheidung zu erlangen. In Verfahren mit Amtsermittlungsgrundsatz bleibt es dennoch grundsätzlich dem erkennenden Gericht überlassen, welchen Weg es im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften für geeignet hält, um eine möglichst zuverlässige Grundlage für eine an dem Kindeswohle orientierte Entscheidung zu erlangen.
4. Es erscheint fachrechtlich möglich, die seit dem 1. Juli 2021 geltende Regelung des § 68 Abs. 5 Nr. 1 FamFG, die die Anwendung von § 68 Abs. 3 S. 2 FamFG (unter anderem eventueller Verzicht auf die Anhörung Verfahrensbeteiligter) ausschließt, wenn ein Hauptsacheverfahren betroffen ist, in dem die teilweise oder vollständige Entziehung der Personensorge nach §§ 1666, 1666a BGB in Betracht kommt, auch dann für anwendbar zu halten, wenn das Hauptsacheverfahren Entscheidungen über die Abänderung oder Aufnahmen von Kinderschutzmaßnahmen nach § 1696 Abs. 2 BGB zum Gegenstand hat, und etwa eine Trennung des Kindes von seinen Eltern aufrechterhalten bleiben soll.
5. Hat das Fachgericht eine zuverlässige Tatsachengrundlage für eine an dem Wohle des Kindes orientierte Entscheidung ermittelt, dann kann selbst der Verzicht auf einfachrechtlich vorgesehene persönliche Anhörungen in Sorgerechtsangelegenheiten mit Verfassungsrecht in Einklang stehen, wenn er mit dem Zweck der betroffenen Anhörungsregelung vereinbar ist.


Elterliche Sorge; Personensorge; Entscheidung über die Vornahme von Impfungen; Pflicht zum Nachweis einer Impfung gegen Masern.
GG Art. 2, Art. 3, Art. 6, Art. 19; IfSG; MasernSchG; SGB VIII §§ 24, 43
1. Das Elternrecht (Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG) ist Freiheitsrecht im Verhältnis zum Staat, der in das Erziehungsrecht der Eltern nicht ohne rechtfertigenden Grund eingreifen darf. In der Beziehung zu dem Kind bildet aber das Kindeswohl die maßgebliche Richtschnur der elterlichen Pflege und Erziehung.
2. Die Entscheidung über die Vornahme von Impfungen bei entwicklungsbedingt noch nicht selbst entscheidungsfähigen Kindern ist ein wesentliches Element der elterlichen Gesundheitssorge, und fällt in den Schutzbereich von Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG. Bei der Ausübung der an dem Kindeswohle zu orientierenden Gesundheitssorge für ihr Kind sind die Eltern jedoch weniger frei, sich gegen Standards medizinischer Vernünftigkeit zu wenden, als sie es kraft ihres Selbstbestimmungsrechts über ihre eigene körperliche Integrität wären.
3. Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG wird nicht von dem Zitiergebot des Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG erfaßt.


Rückführung eines entführten Kindes nach dem Haager Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführungen [HKÜ]; einstweilige Anordnung zur vorläufigen Aussetzung der Vollstreckung einer fachgerichtlichen Entscheidung zur Rückführung eines Kindes zu seinem in Spanien lebenden Vater; Folgenabwägung.
GG Art. 6; EGV 2201/2003 Art. 10 a), Art. 10 b), Art. 11, Art. 40, Art. 42; EUGrdRCh Art. 24; HKÜ Art 12, Art. 13; BVerfGG § 32
In Verfahren der Vollstreckung eines ausländischen Titels zur Herausgabe eines Kindes gemäß Art. 42 Brüssel IIa-VO findet zwar regelmäßig keine inhaltliche Prüfung des Herausgabeanspruchs statt, so daß grundsätzlich auch die Grundrechtspositionen des betroffenen Kindes (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG, Art. 24 EUGrdRCh) bzw seiner Eltern (Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG) nicht berücksichtigt werden können; es erscheint allerdings nicht ausgeschlossen, daß das deutsche Vollstreckungsgericht prüfen kann, ob überhaupt ein Fall des Art. 42 EGV 2201/2003 vorliegt, oder ob das ausländische Gerichte bereits keine Bescheinigung nach dieser Vorschrift ausstellen konnte, etwa weil die Voraussetzungen einer Rückgabe des Kindes gemäß Art. 11 Abs. 8 EGV 2201/2003 nicht vorlagen.


Adoptionsrecht Ablehnung der Abänderung einer Adoptionsentscheidung (§ 197 FamFG) nach Feststellung einer Konventionsverletzung durch den EGMR; Substantiierungsanforderungen einer normunmittelbaren Verfassungsbeschwerde; unzureichende Beschwerdebegründung.
GG Art. 6; FamFG §§ 58, 59; 197, MRK Art. 46; ZPO § 580; BVerfGG §§ 23, 92
1. Zu der hinreichenden Begründung einer Rechtssatzverfassungsbeschwerde muß der Beschwerdeführer sich mit dem zugrundeliegenden einfachen Recht sowie mit der verfassungsrechtlichen Beurteilung des vorgetragenen Sachverhalts auseinandersetzen, und substantiiert darlegen, daß eine Grundrechtsverletzung möglich erscheint; gegebenenfalls muß die Verfassungsbeschwerde zu der Ermittlung des gesetzgeberischen Regelungskonzepts die Gesetzesmaterialien auswerten, und sich mit diesen auseinandersetzen.
2. Der bloße Umstand, daß § 197 Abs. 3 S. 1 FamFG einerseits (Unanfechtbarkeit einer positiven Adoptionsentscheidung) und §§ 58, 59 FamFG andererseits (Rechtsbehelfe bei Ablehnung einer Adoption) die Rechtslage der Verfahrensbeteiligten unterschiedlich ausgestalten, vermag von vornherein eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung nicht zu begründen: Es mangelt an der Vergleichbarkeit der jeweiligen Lage.
BVerfG, Nichtannahmebeschluß vom 5. August 2022 - 1 BvR 2329/21


Herausgabe eines Kindes; Kindesrückführung nach Spanien; Aussetzung der Vollstreckung; Beginn der Monatsfrist (§ 93 Abs 1 BVerfGG) im Falle der Bestellung eines Verfahrensbeistands.
GG Art. 6; BVerfGG §§ 32, 93, 158
Wurde ein Verfahrensbeistand für eine minderjährige Person bestellt, dann kommt es für den Beginn des Fristlaufs nach § 93 Abs. 1 BVerfGG grundsätzlich auf dessen Kenntnis von den anzugreifenden fachgerichtlichen Entscheidungen an.
BVerfG, Einstweilige Anordnung vom 10. August 2022 - 1 BvQ 50/22


Herausgabe eines Kindes; Rückführung aus einer Pflegefamilie zu den leiblichen Eltern; Kindeswohlgefährdung; Anspruch des Kindes auf staatlichen Schutz.
BGB §§ 1632, 1666; GG Art. 2, Art. 6; BVerfGG §§ 93c, 94
1. Kinder haben nach der Verfassung einen Anspruch auf den Schutz des Staates, wenn die Eltern ihrer Pflege- und Erziehungsverantwortung nicht gerecht werden, oder wenn sie ihrem Kind den erforderlichen Schutz und die notwendige Hilfe aus anderen Gründen nicht bieten können.
2. Ist das Kindeswohl gefährdet, dann ist der Staat nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet, die Pflege und Erziehung des Kindes sicherzustellen; das Kind hat insoweit einen grundrechtlichen Anspruch auf den Schutz des Staates.
3. Diese Schutzpflicht gebietet dem Staat im äußersten Fall, das Kind von seinen Eltern zu trennen, oder eine bereits erfolgte Trennung aufrechtzuerhalten. Zwar ist stets dem grundsätzlichen Vorrang der Eltern vor dem Staat Rechnung zu tragen; genügen allerdings helfende, unterstützende, auf Herstellung oder Wiederherstellung eines verantwortungsgerechten Verhaltens der Eltern gerichtete Maßnahmen zur Zielerreichung nicht, dann darf und muß der Staat den Eltern die Erziehungs- und Pflegerechte vorübergehend, gegebenenfalls sogar dauernd, entziehen. Ob die Trennung des Kindes verfassungsrechtlich zulässig und zum Schutz der Grundrechte des Kindes verfassungsrechtlich geboten ist, hängt regelmäßig von einer Gefahrenprognose ab.
4. Hält das Gericht eine Trennung des Kindes von den Eltern nicht oder nicht mehr für erforderlich, obwohl Anhaltspunkte dafür bestehen, daß das Kind bei einem Verbleib in der Familie oder bei einer Rückkehr dorthin in seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet ist, dann hält die Entscheidung verfassungsgerichtlicher Kontrolle an dem Maßstab des Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG grundsätzlich nur dann stand, wenn das Gericht in Auseinandersetzung mit den für eine nachhaltige Gefahr sprechenden Anhaltspunkten nachvollziehbar begründet, warum eine solche Gefahr für das Wohl des Kindes nicht vorliegt. Einer näheren Begründung bedarf es regelmäßig insbesondere dann, wenn das Gericht nicht der Einschätzung der Sachverständigen oder der beteiligten Fachkräfte folgt, es liege eine die Trennung von Kind und Eltern gebietende Kindeswohlgefährdung vor.


Vormundschaft und Pflegschaft; Anordnung einer Vormundschaft für in der Ukraine möglicherweise durch eine Leihmutter geborene Zwillinge; Inobhutnahme von vermutlichen Leihmutterkindern; erfolgreicher Eilantrag bezüglich Zurückweisung einer Anhörungsrüge in familiengerichtlichen Verfahren; mögliche Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG durch fehlende Berücksichtigung einer drohenden Trennung von Kindern von ihrer Hauptbezugsperson; Folgenabwägung.
BGB §§ 1591, 1592, 1773, 1791b; GG Art. 103; EGBGB Art. 19, Art. 24; BVerfGG §§ 22, 23, 32, 92; FamFG § 108
1. Zu der Anordnung einer Vormundschaft für im Jahre 2020 in der Ukraine möglicherweise durch eine Leihmutter geborene Zwillinge, als deren Eltern eine bei Geburt 56-jährige Deutsche und ihr 31-jähriger lettischer Ehemann durch das lettische Konsulat in Kiew in das lettische Personenstandsregister eingetragen worden sind.
2. Zu dem Erlaß einer einstweiligen Aussetzung bezüglich der Wirksamkeit einer Entscheidung über die Anordnung der Vormundschaft, wenn der Ausgang der hiergegen gerichteten Verfassungsbeschwerde, mit der die Verletzung rechtlichen Gehörs wegen Nichtberücksichtigung einer durch den Amtsvormund beabsichtigten und später vorgenommenen Inobhutnahme gerügt wird, offen ist.
BVerfG, Einstweilige Anordnung vom 7. September 2022 - 1 BvR 1654/22


Elterliche Sorge; Verfassungsbeschwerde von Eltern gegen Sorgerechtsentziehung wegen des Verdachts der Kindesmißhandlung; Beweismaß bezüglich der Feststellung elterlichen Fehlverhaltens.
BGB §§ 1666, 1666a; GG Art. 6,Art. 103; BVerfGG §§ 23, 92; ZPO § 286
1. Ob eine Trennung des Kindes von seiner Familie verfassungsrechtlich zulässig und zu dem Schutze der Grundrechte des Kindes verfassungsrechtlich geboten ist, hängt regelmäßig von einer Gefahrenprognose ab. Das gerichtliche Verfahren muß geeignet und angemessen sein, eine möglichst zuverlässige Grundlage für diese Prognose zu erlangen.
2. Bei dieser Prognose, ob eine solche erhebliche Gefährdung vorauszusehen ist, muß die drohende Schwere der Beeinträchtigung des Kindeswohles berücksichtigt werden. Je gewichtiger der zu erwartende Schaden für das Kind, oder je weitreichender mit einer Beeinträchtigung des Kindeswohles zu rechnen ist, desto geringere Anforderungen müssen an den Grad der Wahrscheinlichkeit gestellt werden, mit der auf eine drohende oder erfolgte Verletzung geschlossen werden kann, und desto weniger belastbar muß die Tatsachengrundlage sein, von der auf die Gefährdung des Kindeswohles geschlossen wird.
3. Die fachgerichtlichen Annahmen zu der Frage, ob diese Voraussetzungen im Einzelfall erfüllt sind, unterliegen wegen des besonderen Eingriffsgewichts einer strengen verfassungsgerichtlichen Überprüfung, die sich auch auf einzelne Auslegungsfehler sowie auf deutliche Fehler bei der Feststellung und Würdigung des Sachverhalts erstreckt.
4. Die verfassungsrechtliche Überprüfung der Beweiswürdigung erstreckt sich jedoch auch im Fall einer nach Art. 6 Abs. 3 GG zu beurteilenden Trennung des Kindes von seinen Eltern trotz der intensiveren Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich nur darauf, ob die Feststellungen auf einer tragfähigen Grundlage beruhen, und ob sie nachvollziehbar begründet sind.
5. Es begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, wenn ein Fachgericht bei der Gefahr einer erheblichen Schädigung des Kindeswohles auf die Grundsätze der freien Beweiswürdigung nach § 286 ZPO auch in Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit zurückgreifen, und als Maß für den Beweis einen Grad von Gewißheit ausreichen lassen, der Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen. Die strenge verfassungsrechtliche Prüfung der Sachverhaltsfeststellung und -würdigung eines Beschwerdegerichts gebietet keinen höheren Grad der Gewißheit; dies liefe auf die Notwendigkeit einer in jeder Hinsicht unumstößlichen Sicherheit hinaus, die im Ergebnis praktisch unerfüllbare Anforderungen an den Beweis stellte.
BVerfG, Nichtannahmebeschluß vom 16. September 2022 - 1 BvR 1807/20


Unterhaltsrecht; Anspruch auf rechtliches Gehör; überraschende Kostenentscheidung nach dem Veranlasserprinzip in einem atypischen Fall.
BGB § 1629; FamFG § 243; GG Art. 103; BVerfGG § 93c
Art. 103 Abs. 1 GG gewährleistet unter anderem den Schutz vor Überraschungsentscheidungen. Die Norm statuiert zwar keine allgemeine Frage- und Aufklärungspflicht des Gerichts; ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG ist aber dann anzunehmen, wenn das Gericht ohne vorherigen Hinweis Anforderungen an den Sachvortrag stellt, oder aber auf rechtliche Gesichtspunkte abstellt, mit denen ein gewissenhafter und kundiger Beteiligter auch unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen nach dem bisherigen Prozeßverlauf nicht zu rechnen braucht.


Persönlichkeitsrecht; Reichweite und Verletzung des postmortalen Persönlichkeitsrechts; erfolglose Verfassungsbeschwerde gegen fachgerichtliche Verneinung bestimmter Unterlassungsansprüche im Zusammenhang mit den sogenannten »Kohl-Protokollen«.
BGB §§ 823, 1004; GG Art. 1, Art. 2; BVerfGG §§ 23, 92
1. Träger des allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG sind nur lebende Personen; mit ihrem Tode erlischt der Schutz aus diesem Grundrecht. Die Versagung eines Persönlichkeitsschutzes nach dem Tode stellt keinen Eingriff dar, der die in Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistete Handlungs- und Entscheidungsfreiheit beeinträchtigt; über den Tod des Menschen hinaus bleibt jedoch der Schutzauftrag des Art. 1 Abs. 1 GG bestehen.
2. Die Schutzwirkungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts sind nicht mit dem aus Art. 1 Abs. 1 GG resultierenden Schutz identisch: Eine solche Gleichsetzung würde weder der normativen Bedeutung von Art. 1 Abs 1 GG gerecht, noch fände sie in der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine Stütze.
3. Für die Frage der Reichweite des Ehrschutzes Verstorbener ist zu berücksichtigen, daß das Schutzbedürfnis des Verstorbenen in dem Maße schwindet, in dem die Erinnerung an ihn verblaßt, so daß im Laufe der Zeit auch das Interesse an der Nichtverfälschung des Lebensbildes abnimmt. Unabhängig von der Frage, wie weit der Achtungsanspruch Verstorbener im Einzelfall geht, reicht er jedenfalls nicht weiter als der Ehrschutz lebender Personen.
4. Konkret geschützt wird der aus Art. 1 Abs. 1 GG folgende allgemeine Achtungsanspruch Verstorbener vor grober Herabwürdigung und Erniedrigung; geschützt wird auch der sittliche, personale und soziale Geltungswert, den die Person durch ihre eigene Lebensleistung erworben hat.
5. Es bedarf stets einer sorgfältigen Begründung, wenn angenommen werden soll, daß der Gebrauch eines Grundrechts auf die unantastbare Menschenwürde durchschlägt; dafür genügt ein Berühren der Menschenwürde nicht. Vorausgesetzt ist eine sie treffende Verletzung. Bei Angriffen auf den durch die Lebensstellung erworbenen Geltungsanspruch genügt zum Beispiel nicht dessen Infragestellung, wohl aber deren grobe Entstellung.
6. Demnach ist es zu der Darlegung einer Verletzung des postmortalen Persönlichkeitsrechts aus Art. 1 Abs. 1 GG nicht hinreichend, eine Berührung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts darzutun; dargelegt werden muß vielmehr eine grobe Herabwürdigung und Erniedrigung des allgemeinen Achtungsanspruchs, der dem Menschen kraft seines Personseins zusteht, oder des sittlichen, personalen und sozialen Geltungswertes, den die Person durch ihre eigene Lebensleistung erworben hat.
BVerfG, Nichtannahmebeschluß vom 24. Oktober 2022 - 1 BvR 19/22


Persönlichkeitsrecht; Reichweite und Verletzung des postmortalen Persönlichkeitsrechts; fachgerichtliche Verneinung der Vererblichkeit eines Geldentschädigungsanspruchs im Zusammenhang mit der Veröffentlichung der sogenannten »Kohl-Protokolle«.
BGB §§ 253, 823; GG Art. 1, Art. 2
1. Die in Art. 1 Abs. 1 GG aller staatlichen Gewalt auferlegte Verpflichtung, dem Einzelnen Schutz gegen Angriffe auf seine Menschenwürde zu gewähren, endet nicht mit dem Tod. Demgegenüber wird ein Verstorbener nicht durch das Grundrecht der freien Entfaltung der Persönlichkeit aus Art. 2 Abs. 1 GG geschützt, weil Träger dieses Grundrechts nur lebende Personen sind.
2. Ebenso wie das allgemeine Persönlichkeitsrecht eines lebenden Menschen begründet der postmortale Schutz der Menschenwürde nicht selbst bestimmte materiell-rechtliche Ansprüche gegenüber Verletzungen durch Private. Dem verfassungsrechtlichen Schutzauftrag ist jedoch bei der Ausformung des einfachen Rechts Rechnung zu tragen, durch die er konkretisiert wird.
3. Diese Verpflichtung trifft nicht nur den Gesetzgeber, sondern, soweit er keine Entscheidung getroffen hat, auch die Gerichte. Diese Schutzpflicht ist jedoch grundsätzlich unbestimmt; nur ausnahmsweise lassen sich aus den Grundrechten konkrete Regelungspflichten ableiten, insbesondere gibt es keinen verfassungsrechtlichen Grundsatz des Inhalts, daß eine Verletzung der Menschenwürde stets einen Entschädigungsanspruch nach sich ziehen muß.
4. Die fachgerichtliche Rechtsauffassung, daß der Anspruch auf Geldentschädigung wegen Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts auch dann nicht vererblich ist, wenn der Anspruch in dem Zeitpunkt des Todes des Verletzten und ursprünglichen Anspruchsinhabers bereits bei Gericht anhängig oder gar rechtshängig war, begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken.
5. Aus der Garantie der Menschenwürde folgt keine Pflicht der Zivilgerichte, die zivilrechtlichen Anspruchsgrundlagen des persönlichkeitsrechtlichen Sanktionensystems auszuweiten. Verfassungsrechtlich geboten ist dies jedenfalls dann nicht, wenn die Rechtsordnung andere Möglichkeiten zu dem Schutze der postmortalen Menschenwürde bereithält.
BVerfG, Nichtannahmebeschluß vom 24. Oktober 2022 - 1 BvR 110/22


Umgangsrecht; Umgang der Eltern mit ihren Kindern; Vollstreckung einer familiengerichtlichen Umgangsregelung bei nachfolgendem Umgangsausschluß zur Wahrung des Kindeswohles.
BGB § 1666; FamFG §§ 64, 93; GG Art. 6; BVerfGG §§ 23, 92
Nach den fachrechtlichen Vorgaben wird die Rechtmäßigkeit einer zu vollstreckenden umgangsrechtlichen Entscheidung und damit das Kindeswohl im Vollstreckungsverfahren grundsätzlich nicht erneut geprüft, in Ausnahmefällen jedoch dann, wenn der titulierte Umgang offenkundig mit einer Gefährdung des Kindeswohles verbunden sein kann.
BVerfG, Nichtannahmebeschluß vom 10. November 2022 - 1 BvR 1496/22


Herausgabe eines Kindes; Rückführung eines in einer Pflegefamilie lebenden Kindes; Kindeswohlprüfung zu der Tragweite der Trennung des Kindes von seiner Pflegefamilie und der Erziehungsfähigkeit der Ursprungsfamilie; fortdauernde Fremdunterbringung eines Kindes aus Gründen des Kindeswohles; Unzulässigkeit einer Verfahrensbeschwerde mangels Vorlage entscheidungserheblicher Unterlagen.
BGB §§ 1632, 1666; GG Art. 6; BVerfGG §§ 23, 92
1. Begehren Eltern die Rückführung ihres in einer Pflegefamilie lebenden Kindes, dann müssen bei der Kindeswohlprüfung die Tragweite der Trennung des Kindes von seiner Pflegefamilie und die Erziehungsfähigkeit der Ursprungsfamilie auch im Hinblick auf ihre Eignung berücksichtigt werden, um die negativen Folgen einer Traumatisierung des Kindes gering zu halten. Das Kindeswohl gebietet es, die neuen gewachsenen Beziehungen des Kindes zu seinen Pflegepersonen zu bedenken, und das Kind aus seiner Pflegefamilie lediglich herauszunehmen, wenn die Beeinträchtigungen des Kindes als Folge der Trennung von den bisherigen Bezugspersonen unter Berücksichtigung der Grundrechtsposition des Kindes noch hinnehmbar sind.
2. Allerdings folgt aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG, daß Pflegeverhältnisse nicht in einer Weise verfestigt werden dürfen, die in nahezu jedem Fall zu einem dauerhaften Verbleib des Kindes in der Pflegefamilie führte. Da eine Rückkehr zu den Eltern auch nach längerer Fremdunterbringung - soweit Kindeswohlbelange nicht entgegenstehen - möglich bleiben muß, dürfen die mit einem Wechsel der Hauptbezugspersonen immer verbundenen Belastungen eine Rückführung nicht automatisch dauerhaft ausschließen.
3. Vor diesem Hintergrund begegnet es verfassungsrechtlichen Bedenken, wenn ein Fachgericht darauf abstellt, daß eine von den Eltern angestrebte Rückführung ihres Kindes aus einer Pflegefamilie das bestehende Bezugssystem verändere und zwangläufig mit einem Abbruch der gelebten Eltern-Kind-Beziehung einhergehe, was die kindliche Entwicklung gefährde. Damit stellt es letztlich auf einen Umstand ab, der mit jedem Wechsel der aktuellen Hauptbezugspersonen der Kinder verbunden ist, und einer Rückführung in den Haushalt des Beschwerdeführers automatisch dauerhaft entgegenstehen würde.
4. Gleichfalls kann es verfassungsrechtlichen Bedenken begegnen, das Risiko einer Bindungsstörung in dem Falle einer Kindesrückführung auf ein gestörtes Vertrauensverhältnis zwischen den natürlichen Eltern und den Pflegeeltern zu stützen. Sind sehr strenge Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs in das Elternrecht zu stellen, dürfen derartige Spannungen nicht ohne Weiteres zu Lasten der natürlichen Eltern gehen; andernfalls könnte ihnen entgegen den Anforderungen des Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG keine ausreichende Chance auf Rückkehr ihrer Kinder in ihren Haushalt eröffnet sein.
5. Es ist insoweit Sache des Staates, eine Trennung der Kinder von ihren Eltern nach Möglichkeit durch helfende und unterstützende Maßnahmen zu vermeiden.
BVerfG, Nichtannahmebeschluß vom 15. November 2022 - 1 BvR 1667/22


Elterliche Sorge; Beteiligung des Stiefvaters in Sorgerechtsverfahren bezüglich seiner Stiefkinder iSd § 7 FamFG; Obliegenheit zur Vorlage der angegriffenen fachgerichtlichen Entscheidung auch bei unterbliebener Zustellung jener Entscheidung an den Beschwerdeführer.
BVerfGG §§ 23, 92; FamFG § 7
1. Zu der Verfassungsmäßigkeit einer fachgerichtlichen Entscheidung betreffend das Sorgerecht für zwei Kinder, die aus einer früheren Beziehung seiner Ehefrau hervorgegangen sind, als Nichtbeteiligter gemäß § 7 FamFG.
2. Zu der Obliegenheit zu der Vorlage der angegriffenen fachgerichtlichen Entscheidung auch bei unterbliebener Zustellung jener Entscheidung an den Beschwerdeführer.
BVerfG, Nichtannahmebeschluß vom 5. Dezember 2022 - 1 BvR 1865/22


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